Willkommen zu meinem ersten Beitrag zu unserem kleinen Adventskalender. Da meine geplante Geschichte noch zu unvollendet ist, um den ersten Teil hier zu posten, habe ich etwas anderes aus der Schatztruhe gekramt, das mit Weihnachten zu tun hat.
Der Weihnachtsmann
190. Ich komme näher. Es ist schon fast fünf Uhr. Ich möchte
ungern zu spät kommen.
Die letzte heile Familie für heute. Danach bin ich den Rest
der Feiertage allein. Ein kleines bisschen hatte ich gehofft, dass Sven doch
noch Zeit für mich hat. Wir treffen uns nun schon seit fast einem Jahr regelmäßig
und ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass wir auch Weihnachten zusammen
feiern. Es hat mich ziemlich getroffen, als er mir letzte Woche eröffnet hat,
dass er die ganzen Feiertage nicht kann. Natürlich geht die Familie vor, aber
es tut trotzdem ein bisschen weh.
193 und 195. Es geht einen Durchgang entlang. Wunderbar.
Parkplätze gibt es hier wenig. Egal. Der Weihnachtsmann darf auch mal halblegal
parken. Legen wir die 5-m-Regel mal großzügig aus. Bart anlegen, Mütze
aufsetzen und dann den Spickzettel noch einmal durchlesen, während es mit
schnellen Schritten den eisigen Weg entlang geht. Drei Kinder, zwei Jungs und
ein Mädchen. Drei, vier und sechs Jahre alt. Kim, das Mädchen, ist die Älteste,
dann kommt Leon und der Kleine heißt Yannick. Für jedes Kind sind noch ein paar
Stichworte notiert. Schließlich bin ich der Weihnachtsmann und der weiß alles!
195 m … n … o … p. Hier ist es. Ein schneller Blick auf das
Handy zeigt mir, dass ich noch pünktlich bin. Wie versprochen steht der Sack
mit den Geschenken in dem kleinen Schuppen in der Ecke des Vorgartens. Wenn ich
sehe, wie viele Geschenke hier wieder verpackt worden sind, wird mir ganz
anders. Der Sack ist genauso groß und voll wie heute Morgen, als ich
ehrenamtlich im Kinderheim war, um die Kinder zu bescheren. Da hat jeder ein
kleines Geschenk bekommen und dennoch haben sich die Kleinen gefreut wie die
Schneekönige. Hier hingegen gibt es wieder Geschenke im Überfluss. Aber so ist
wohl der Lauf der Welt heutzutage.
Ding dong ... ding dong … ding dong
Die Tür öffnet sich und eine ältere Dame begrüßt mich.
Sicher die Oma der Kinder.
„Schaut doch mal her“, ruft sie laut in das angrenzende
Zimmer, aus dem lautes Geplapper dringt. Sofort erscheint ein neugieriger
Kinderkopf im Türrahmen. Ich nehme an, dass es Leon ist. Als er mich sieht,
rennt er gleich wieder weg. „… wen ich hier mitgebracht habe“, vollendet die
Oma den Satz und schiebt mich vor sich her in das große Wohnzimmer. Dort sitzt
wohl die ganze Familie beisammen. Kinder, Eltern und Großeltern. Am bunt
geschmückten Weihnachtsbaum brennt die Lichterkette als einzige Lichterquelle.
Im Hintergrund läuft leise Weihnachtsmusik.
„Wisst ihr denn, wer ich bin?“, frage ich mit meiner tiefen
Weihnachtsmannstimme und lasse den Blick langsam über die Anwesenden gleiten.
Die beiden Kleinen haben sich zu Mama und Oma auf die Couch verzogen, während
die Große auf Papas Schoß sitzt.
Papas Schoß? Papa? Mein Herz setzt urplötzlich aus mit dem
Schlagen. Der Sack rutscht mir aus der Hand und fällt auf den Boden. Durch das
Geräusch komme ich wieder zu mir. Doch auch das Zukneifen der Augen hilft mir
nicht weiter. Der Typ dort, der eindeutig der Vater der Kinder ist, das ist
Sven. Mein Sven. Der erste Mann, mit dem ich mir eine Beziehung vorstellen
konnte. Mit dem ich insgeheim eigentlich schon eine Beziehung geführt habe.
Auch wenn wir nie darüber gesprochen haben. Aber es hat halt alles gepasst. Wir
haben die gleichen Interessen und den gleichen Humor. Der Sex ist grandios. Er
sieht toll aus. Mit ihm will ich den Rest meines Lebens verbringen. Dachte ich
zumindest bis eben. Er schaut mich an. Lächelt mich an. Als ob nichts geschehen
wäre. Mir kommt gleich mein Frühstück wieder hoch. Zum Glück habe ich seit dem
nichts mehr gegessen. Sonst könnte ich für nichts garantieren. Am liebsten
würde ich auf der Stelle umkehren, aber das kann ich den Kindern nicht antun.
Sie würden für immer den Glauben an den Weihnachtsmann verlieren. Also zwinge
ich mich dazu, mich wieder zu konzentrieren. Nur noch diese Bescherung, dann
habe ich Feierabend. Zum Glück hat meine Stammkneipe auch am Heiligabend
geöffnet. Ab 18 Uhr. Passt ja hervorragend. Wird wohl mein erstes Fest im
Vollrausch werden. Keine Ahnung, was armseliger ist. Einsam zu sein oder
besoffen und einsam zu sein.
„Hast du auch Geschenke für uns mit?“
Die Stimme des Mädchens reißt mich aus meiner Lethargie. Sie
steht plötzlich neben mir und zupft an meiner Jacke. Ich muss nur noch diese
paar Minuten durchstehen. Dann kann ich mich meinem Kummer hingeben. Was hatte
damals schon immer der Typ in der Schule gesagt, der unseren Theaterkurs
geleitet hat? „Blende deine Gedanken einfach aus und spiele deine Rolle…“ Meine
Rolle ist der Weihnachtsmann. Das muss doch hinzubekommen sein.
„Wenn du artig gewesen bist, habe ich auch etwas für dich in
meinem großen Sack“, sage ich. „Du bist Kim, nicht wahr?“
Die Kleine nickt. „Kim Winter“, meint sie, „ich bin auch
immer artig gewesen.“
Wenn ich eine Bestätigung gebraucht hätte, hätte ich sie
jetzt bekommen. Winter. Klar, Sven Winter. Toll. Verheiratet ist er also auch.
War wahrscheinlich alles ein so unwichtiges Detail, das es nicht wert war,
erwähnt zu werden, wenn er sich mit mir in den Laken wälzte. Ich atme tief ein
und aus und rufe mich innerlich zur Ruhe. Ich bin der Weihnachtsmann und nicht
Torben Schäfer, der größte Idiot auf Gottes Planeten.
„So, so, du bist also immer artig gewesen“, wiederhole ich
mit meiner tiefen Stimme, „können das denn deine Eltern und deine Geschwister
auch bestätigen?“
Die Kleine weicht ein wenig zurück und guckt sich ängstlich
zu ihrem Vater, doch bevor der ihr zustimmen kann, rede ich schon weiter.
„Aber ich glaube, du hast recht. Die meiste Zeit jedenfalls
warst du wohl recht lieb. Ich habe nur gehört, dass du manchmal deine kleinen
Brüder ziemlich ärgerst. Das ist nicht nett. Schließlich bist du die Älteste
und Vernünftigste.“
„Leon ärgert mich aber auch immer“, verteidigt sich die
Kleine mit einem trotzigen Schmollmund. Dennoch ist ihr der Respekt vor dem
Weihnachtsmann nicht abzusprechen. Was ein Kostüm so ausmachen kann.
„Dann wollen wir doch mal sehen, ob ich in meinem großen
Sack ein Geschenk für dich habe. Hast du denn auch ein kleiner Gedicht
gelernt?“
Stolz baut das Mädchen sich vor mir auf und beginnt, ein
Gedicht aufzusagen. Die Kleine ist niedlich. Unter anderen Umständen würde ich
sie sicher mögen. Ich mag Kinder, auch wenn ich wahrscheinlich selbst nie
welche haben werde.
„Das war sehr schön“, lobe ich sie und reiche ihr feierlich
das große Paket, das mit ihrem Namen versehen in dem Sack steckte. „Dann wollen
wir mal sehen, ob für deine Brüder auch etwas da ist.“
Die kleinen Jungs kuscheln sich ängstlich an ihre Mutter.
Sie wenden schüchtern den Blick ab, als ich mich ihnen zuwende. Die Mutter
spricht leise auf die beiden ein und schiebt sie behutsam in meine Richtung.
Hand in Hand kommen die Zwerge ein Stück näher. Ich gehe in die Hocke, um ihnen
näher zu sein. Mit diesem dicken Bauch ist das gar nicht so einfach. „Du bist
Leon, nicht wahr?“, begrüße ich den Größeren, „und du Yannick.“ Sie nicken beide
stumm.
Für die Kleinen ist es nicht einfach schon etwas aufzusagen.
Aber mit ein wenig gutem Zureden fangen sie an, ein Weihnachtslied zu singen. Süß!
Die Stimmen klingen hell und klar. Mein Blick wandert von den beiden Jungs vor
mir über den Rest der Familie. Sie schauen aufmerksam zu. Alle lächeln. Auch
Sven. Am liebsten würde ich ihm hier vor seiner Familie eine handfeste Szene
machen. Er tut noch immer so, als würde er mich nicht kennen. Ich bin wütend
und dennoch tut es mir weh. Mein Herz zieht sich zusammen und einen Moment habe
ich Angst, keine Luft mehr zu bekommen. Ich atme bewusst tief ein und aus und
versuche, den dicken Kloß hinunterzuschlucken, der sich in meinem Hals
verfangen hat. Wut wäre sicher einfacher. Leider überwiegt der Schmerz. Immerhin
gelingt es mir, den verdächtigen Druck in meinen Augen zu überwinden. Ich werde
jetzt nicht anfangen zu heulen. Nicht hier. Nicht vor ihm und seiner Familie.
Obwohl er es verdient hätte.
„Sehr gut, sehr gut“, lobe ich den Gesang und krame etwas
länger als unbedingt nötig in dem Sack herum. „Für Leon“, reiche ich dem
aufgeregten Jungen sein Geschenk, „und für Yannick …“
Die Kinder sind mit ihren ersten Geschenken beschäftigt. Nun
wende ich mich erst einmal den Erwachsenen zu. Es geht erstaunlicherweise ganz
gut. Ein Paket nach dem anderen nehme ich aus dem Sack und suche den Empfänger.
Silke. So heißt seine Frau. Sven und Silke Winter. Welche Idylle! Mit einem
freundlichen Lächeln nimmt Silke mir das Paket aus der Hand. Sie sieht offen
und ehrlich aus. Sie scheint vom Doppelleben ihres Mannes wirklich keinen
blassen Schimmer zu haben. Arme Frau!
Marco. Eigentlich haben doch alle schon ein Geschenk
bekommen. Außer ihm. Sven.
„Marco“, rufe ich laut und blicke in die Runde.
Warum verwundert es mich nicht, dass Sven sich erhebt und
mir entgegen kommt.
„Das bin ich“, ruft er mit seiner Stimme, die mir jedes Mal
wieder einen wohligen Schauer über den Rücken jagt und mir auch jetzt ein
Kribbeln im Bauch einbringt. „Leider kann ich weder singen noch ein Gedicht.
Ich hoffe, ich bekomme trotzdem ein Geschenk von dir, Weihnachtsmann!“
Mein Körper sendet mir all die Signale von Verliebtheit und
doch ist das alles andere als ein Treffen unter Liebenden. Ich sehe sein
lächelndes Gesicht und merke, wie die Wut immer mehr in mir hochsteigt. Ich
muss hier raus. Schnellstmöglich. Marco. Nicht einmal seinen richtigen Namen
hat er mir genannt, als wir uns kennenlernten. Auf jeden Fall ist er der
perfekte Schauspieler.Freundlich und jovial nimmt er mir das Paket ab und
bedankt sich.
Ich habe es auf einmal eilig. Ich verabschiede mich mit ein
paar guten Wünschen von den Kindern und den Erwachsenen. Ungeduldig warte ich
im Flur auf meine Bezahlung. Wenn ich das Geld nicht so dringend bräuchte,
würde ich darauf verzichten. Die Tür geht auf. Ausgerechnet er. Er streckt mir
das Geld entgegen und dankt mir noch einmal. Freundlich, aber vollkommen
unpersönlich. Gefangen in seiner Rolle als braver Familienvater. Allein mit ihm
siegt die Wut über all die anderen Gefühle, die in mir toben.
„Du kannst dein blödes Spiel ruhig durchhalten, Marco …“ Ich
spucke den Namen geradezu aus. „… tu so, als würdest du mich nicht kennen, du
Arschloch …“ Ich muss mich echt beherrschen, nicht zu schreien. Aber heute ist
Heiligabend. Da gibt es keine offene Szene unterm Weihnachtsbaum. Ich will hier
nur noch weg. „…blödes, verlogenes Arschloch“, gifte ich, „vergiss alles, was
ich mal zu dir gesagt habe.“
Ich mache auf dem Absatz kehrt und reiße die Tür auf. Das
erstaunte Gesicht bekomme ich noch aus dem Augenwinkel mit. Er ruft mir etwas
nach, will mich zurückhalten, aber ich falle in einen Laufschritt, bis ich bei
meinem Auto angelangt bin. Zitternd stecke ich den Schlüssel ins Zündschloss
und starte den Wagen. Er kommt mir nach, steht winkend vor dem Haus. Doch ich
fahre mit quietschenden Reifen los. Die Tränen, die meinen Blick nun endgültig
verschleiern, blinzele ich weg. Ich bin viel zu schnell unterwegs. Das weiß
ich. Aber die Polizei wird hoffentlich ein Einsehen haben und heute keine
Radarkontrollen machen. Wer will außerdem den Weihnachtsmann verurteilen?
„Noch einen“, rufe ich Sandra zu,
die heute Dienst im „Stübchen“ hat. Was bin ich froh, dass meine Stammkneipe
wenigstens geöffnet ist heute. Außer mir hat es zwar nur zwei ältere Männer
hierher verschlagen, aber alles ist besser, als jetzt allein zuhause zu sitzen.
Mein Nachbar am Tresen versucht, sich mit mir zu unterhalten, aber ich habe
keine Lust auf Konversation. Ich will Alkohol Wenn das das erste Weihnachtsfest
im Vollrausch wird, dann ist es eben so. Fünf Tequila habe ich schon und
langsam merke ich die Wirkung. Zumal ich kaum etwas gegessen habe den ganzen
Tag. Aber ich habe ja zwei Tage Zeit zum Ausnüchtern. „Noch einen“, wiederhole
ich ungeduldig und schiebe mein leeres Glas zu der Bedienung hinüber. Ich kenne
Sandra schon ziemlich lange. Sie arbeitet schon ein paar Jahre hier. Wir
verstehen uns gut. Sie hat mir heute gleich angesehen, dass etwas passiert sein
muss. Aber sie hat keine weiteren Fragen gestellt. Dabei muss es ein Bild für
Götter sein, wenn ein Weihnachtsmann sich volllaufen lässt. Nun ja, nur noch ein
halber Weihnachtsmann, denn den Bart und die Perücke mit Mütze habe ich dann
doch abgelegt.
„Mach mal eine Pause“, sagt Sandra und stellt mir eine Cola
und ein Sandwich vor die Nase, „willst du mir nicht sagen, was los ist? Da muss
doch etwas passiert sein bei dir.“
Vehement schüttle ich den Kopf. „Noch `nen Schnaps“, fordere
ich trotzig, „kann dir doch egal sein.“
„Ist es aber nicht, Torben“, sagt Sandra mit leiser Stimme.
„Heute ist Weihnachten. Allein die Tatsache, dass du hier bist und dich besäufst, finde ich schade.“
„Du bist doch auch hier.“
„Ich arbeite hier.“
„Weil du nichts Besseres zu tun hast an Heiligabend.“
„Iss das Brot und dann reden wir ein bisschen“, sagt sie,
ohne weiter auf mich einzugehen. Die anderen Gäste verlangen ihre
Aufmerksamkeit. Ich sträube mich zunächst noch etwas, doch dann beiße ich in
das Sandwich. Eigentlich habe ich schon ein bisschen Hunger und ich weiß, dass
es mir besser bekommt.
Schließlich kommt Sandra zu mir zurück. Sie drängt mich
nicht, aber mit einem Mal sprudelt es nur so aus mir heraus. Am Anfang noch ein
bisschen zögerlich, doch dann immer mehr. Sandra kann sich sogar noch an Sven
erinnern, weil wir schon ein paar Mal gemeinsam hier waren. Es tut gut zu
reden. Ich merke, dass ich mich langsam beruhige. Auch wenn ich noch immer
wütend bin und enttäuscht.
„Hier bist du! Endlich habe ich dich gefunden!“
Die Stimme. Sven. Nein, Marco. Er wagt es tatsächlich, hier
aufzutauchen. Ich drehe mich um und schaue ihn an. Er hat sich umgezogen. Jetzt
sieht er nicht mehr aus wie der brave Familienvater Marco an Weihnachten, jetzt
ist er wieder mein Sven. Nein, nicht mein Sven. Es gibt keinen „meinen Sven“
mehr. Zum einen, weil er gar nicht Sven heißt und weil ich nicht bereit bin,
meinen Freund zu teilen mit einer Familie. Egal ob ich ihn liebe oder nicht.
Auch wenn es gerade beschissen wehtut.
„Ich muss dir was erklären, Torben“, sagt Sven, indem er
sich neben mich auf den Barhocker setzt. Als er mich anfassen will, rücke ich
ein Stück von ihm weg.
„Was gibt es da zu erklären?“, frage ich wütend, „Marco …“
Ich spucke ihm seinen richtigen Namen fast ins Gesicht. „Ich habe dir alles
gesagt, was zu sagen war. Ich habe mich eben sehr in dir getäuscht.“
„Es ist nicht so wie es scheint, Torben.“
Verdammt, wie kann man so ruhig bleiben wie er. Na klar,
weil die großen Gefühle, die er mir vorgespielt hat, eben nur Show waren. Er
hat ja seine Familie. Die Frau und die Kinder. Nur den Kerl für den Spaß nebenbei,
den hat er jetzt nicht mehr. Auch wenn es wehtut. Aber dafür bin ich mir zu
schade. Ich bin nicht der Typ für die versteckten Stunden.
„Ich bin Sven …“
„… und ich der König von China“, unterbreche ich ihn
zynisch, „vergessen, dass ich dir dein Weihnachtsgeschenk selbst gegeben habe,
Marco. Du bist so erbärmlich.“
Wenn es mir helfen sollte, ihn zu beschimpfen, dann tut es
das nicht. Ich fühle mich genauso beschissen wie vorher.
„Ich bin wirklich Sven“, behauptet er bestimmt. Er nimmt
meinen Kopf in seine Hände und zwingt mich, ihm ins Gesicht zu sehen. „Marco
ist mein Bruder. Mein Zwillingsbruder. Wir sind eineiige Zwillinge. Du warst
bei meinen Eltern zuhause und hast fast meine ganze Familie kennengelernt.“
Ich lache etwas hysterisch auf. Wenn ich ihn so höre, möchte
ich ihm fast glauben. Wenn es nicht so unglaublich wäre. Wenn ich ihn nicht
selbst im Kreis seiner Familie erlebt hätte. „Und wo warst du dann?“, frage ich
hart, „hast du mir nicht erzählt, du feiertest mit deiner Familie. Wenn das dein
Bruder war, wo warst du dann?“
„Im Stau“, sagt Sven ruhig, „hör mir einfach einmal zu,
bitte.“
Widerwillig und trotzig schaue ich ihn an. Ich bleibe stumm
und gebe ihm so die Möglichkeit zu reden.
„Ich habe meine Schwester aus dem Heim abgeholt“, erklärt Sven
leise, „auf der Autobahn war ein Unfall und eine Vollsperrung. Ich bin erst vor
einer Stunde bei meinen Eltern angekommen. Marco hat mir gleich, als ich kam,
erzählt, dass der Weihnachtsmann ihn mit mir verwechselt hatte. Mir war sofort
klar, dass du es warst. Ich bin sofort los, um dich zu suchen. Meine Eltern
sind sicher sauer, aber du bist mir wichtiger.“ Etwas zaghaft greift er nach
meiner Hand und verschränkt seine Finger mit meinen. „Du bist mir wichtiger, Torben.
Viel wichtiger. Weil ich mich, verdammt noch mal in dich verliebt habe.“
Ich höre seine Worte, doch mein alkoholumnebelter Verstand
braucht einen Moment, um sie auch zu verstehen. Ich möchte sie so gerne
verstehen. Und glauben. Er ist in mich verliebt. Wie ich.
„Es tut mir leid, dass du das alles so erleben musstest,
Torben“, meint Sven leise und küsst mich zärtlich auf den Mund. „Ich hätte dich
an Weihnachten nicht allein lassen dürfen. Schließlich weiß ich doch, dass du
keine Familie hast zum Feiern. Ich hoffe, du verzeihst mir.“
Seine Hand liegt in meinem Nacken und zieht mich näher an
sich heran. Ich rieche Sven und ich schmecke seine Lippen. Spätestens jetzt ist
der letzte Rest meines Widerstands gebrochen. Mein Herz pocht wie verrückt und
in meinem Bauch flattern die Schmetterlinge los. Seine Lippen schmiegen sich
sanft auf meinen Mund und seine Zunge teilt meine Lippen. Nur zu gern lasse ich
ihn hinein in meine Mundhöhle. Mal zärtlich, mal hart presst er sich gegen
mich. Wir vergessen alles um mich herum und trotz meines Zustandes merke ich,
wie mein Körper auf die Zärtlichkeiten reagiert, Erst das leise Räuspern
Sandras lässt uns stoppen.
„Ihr solltet wohl lieber nach Hause gehen, Jungs“, sagt sie
lachend, „fröhliche Weihnachten.“
„Natürlich kommst du mit, keine
Widerrede.“
Sven küsst mich zärtlich, bevor er seinen Kopf auf den
Unterarm abstützt und auf mich herabsieht. Ich bin hin und hergerissen und weiß
nicht, was ich tun soll. Ich bin aufgeregt. Die Nacht, die wir beide hinter uns
haben, sollte doch eigentlich Beweis genug sein, dass es ein „uns“ gibt. Noch
immer kleben vertrocknete Reste unseres Spermas auf meinem Bauch und in meinem
Schlafzimmer riecht es nach Sex.
Eigentlich war es gestern Abend keine Frage mehr, was wir
tun. Nachdem Sandra uns mehr oder weniger rausgeworfen hat und wir unter dem
Applaus der anderen Gäste gegangen waren, hat uns der Weg direkt in meine
Wohnung geführt. Daran gab es keinen Zweifel.
Ausgehungert sind wir übereinander hergefallen. Den Weg von
der Wohnungstür bis zum Schlafzimmer säumen unsere Sachen und die erste Welle
des Orgasmus überkam mich kurz nachdem wir gemeinsam aufs Bett gefallen sind.
Die Müdigkeit und der Schwips waren wie weggeblasen und wir haben uns
gegenseitig auf jede erdenkliche Weise verwöhnt. Worte waren erst mal genug
gewechselt und so haben wir beide Taten sprechen lassen bis wir erschöpft
eingeschlafen sind.
Vor einer guten Stunde wurde ich von Sven auf liebevolle
Weise geweckt. Liebevoll allein trifft es nicht ganz. Als ich von seinem Tun
erwachte, steckte mein harter Schwanz schon in seinem Mund und ich war kurz
davor, mich in ihm zu entladen. Erst danach hat Sven mir eröffnet, dass er mich
heute mitnehmen will zu seiner Familie.
Es ist der erste Weihnachtsfeiertag und ich bin schuld, dass
Sven den Heiligabend nicht im Kreis seiner Familie feiern konnte. Weil er
sofort nach seiner Ankunft wieder losgefahren ist, um mich zu suchen. Weil ich
ihm wichtiger war als seine Familie.
Er hat mir viel von seiner Familie erzählt, während wir eng
aneinander gekuschelt in meinem Bett lagen heute Nacht. Von seinen Eltern, die
ihn lieben, obwohl er ihnen gesagt hat, dass er schwul ist. Von seinem
Zwillingsbruder Marco und dessen Familie. Und von seiner Schwester Carina, die
fünf Jahre jünger ist als die Jungs und schwerstbehindert. Sie lebt in einem
Pflegeheim knapp zwei Autostunden entfernt, aber zu den Feiertagen holt man sie
immer nach Hause zurück. Auf der Fahrt war Sven gestern steckengeblieben und
deshalb zur Bescherung nicht da gewesen. Sonst wäre es gar nicht zu den
Missverständnissen gekommen.
Heute will er mich mitnehmen zum Essen zu seinen Eltern. Ich
weiß noch nicht, was ich davon halten soll. Ich bin nervös. Extrem nervös. Ich
bin noch nie zu den Eltern meiner Freunde eingeladen worden. Zumal ich sie ja
im gewissen Maße schon kenne nach dem gestrigen Tag. Wobei ich mich immer noch
schäme, wenn ich an meinen Abgang gestern denke.
„Du brauchst keine Angst zu haben, Torben“, sagt Sven
liebevoll, „meine Eltern werden dich lieben.“
„Nach dem Auftritt von gestern bezweifle ich das“, meine ich
zaghaft. Doch die beruhigenden Worte und die zärtlichen Gesten meines Freundes
helfen mir zumindest, mich mit dem Gedanken anzufreunden.
Mein Freund. Es ist ein schöner Gedanke, Sven als meinen
Freund zu sehen. Obwohl wir schon seit Monaten miteinander ausgehen, tanzen,
lachen, miteinander schlafen, haben wir uns bisher noch nie darüber
unterhalten, wie wir uns unser Leben vorstellen. Ob wir ein Paar sind im
herkömmlichen Sinne. Ich hatte immer den Eindruck, dass Sven die Freiheit zu
sehr liebt, um sich fest zu binden. Mir habe ich das auch immer eingeredet,
dabei stimmt das nicht. Ich würde sehr gern eine feste Beziehung haben, einen
Menschen, dem ich vorbehaltlos vertrauen kann und der immer für mich da ist.
Ich habe nicht viele Freunde, eigentlich nur zwei, die ich wirklich so
bezeichnen würde. Aber es ist doch etwas anderes, einen Freund zu haben oder
einen Partner.
„Meine Eltern haben gelacht, als ich ihnen erzählt habe,
dass du Marco für mich gehalten hast, und allein die Tatsache, dass mein Bruder
mir gleich von deinem Auftritt erzählt hat, zeigt doch, dass sie sich denken
können, wie viel du mir bedeutest. Marco war allerdings auch der einzige, dem
ich schon mal von dir erzählt habe.“
Drei Stunden später parke ich tatsächlich wieder vor dem gleichen
Haus wie gestern. Ich bin so aufgeregt wie seit langem nicht mehr. Ein letztes
Mal zupfe ich an meinem Hemd herum. Die Entscheidung, was ich anziehen sollte,
ist mir sehr schwer gefallen und Svens grinsende Bemerkungen haben mir auch
nicht viel weiter geholfen. Dabei gab es gar nicht so viel Auswahl. Ich besitze
nur einen Anzug und drei Hemden. Jeans und Shirt fielen von Beginn an heraus.
Schließlich ist Feiertag und ich bin zum ersten Mal bei den Eltern meines
Freundes eingeladen. Aber die Entscheidung, welches Hemd, mit oder ohne
Krawatte. Die Haare offen oder mit Gel oder Haarreif. So viele Gedanken habe
ich mir noch nie gemacht. Mir war es aber auch noch nie so wichtig, einen guten
Eindruck zu machen. Gerade weil ich gestern wutschnaubend abgefahren bin.
Sven gibt mir einen flüchtigen Kuss und drückt auf die
Klingel. Er lächelt mich aufmunternd an und hält meine Hand fest mit seiner
verschränkt. Das gibt mir ein wenig Halt, denn meine Knie sind ganz schön
wackelig, als ich die Schritte auf der anderen Seite der Tür höre, kurz bevor
diese sich öffnet und Svens Mutter mit einem Lächeln vor uns steht.
„Herr Schäfer, nicht wahr“, sagt sie lächelnd und reicht mir
die Hand, „kommen Sie doch herein und fühlen Sie sich wie zuhause. Wir freuen
uns, dass Sven uns endlich mal einen Freund vorstellt.“
Ich nicke etwas dämlich und schlucke den Kloß herunter, der
in meinem Hals feststeckt. Stumm schüttele ich die angebotene Hand, während
Sven sich an mir vorbeidrängt, seiner Mutter einen Kuss auf die Wange gibt und
mich dann hinter sich herzieht.
„Du kannst ruhig Torben und du sagen, Mama“, sagt er und
dreht sich dann zu mir, um sich die Bestätigung zu holen, „nicht wahr? Du hast
doch nichts dagegen. Das ist sonst so eine megasteife Veranstaltung heute.“
„Na … natürlich“, stammele ich leise, „das ist in Ordnung.“
„Gut“, meint Svens Mutter mit einem breiten Lächeln, „dann
also Torben. Ich bin Gaby. Willkommen bei uns!“
Im Wohnzimmer warten auch Walter und Carina auf uns. Es ist
ein komisches Gefühl, hier so nett aufgenommen zu werden. Ich fühle mich sofort
als Teil der Familie. Nachdem sein Vater mich begrüßt hat, stellt Sven mir
stolz seine Schwester vor. Sie liegt festgeschnallt in ihrem Elektrorollstuhl,
der eine Kombination aus Stuhl und Bett ist. Sie kann nicht reden und nicht
laufen, aber selbst mir fällt auf, dass sie anfängt zu strahlen, als sie Svens
Stimme hört und ihn neben sich entdeckt. Er spricht sanft und liebevoll mit ihr
und sie schenkt ihm ein Lächeln als Antwort. Die Geräusche, die sie von sich gibt,
sind für mich undefinierbar, aber Sven scheint etwas zu verstehen, denn er
antwortet ihr darauf.
„Du kannst ihr ruhig die Hand schütteln“, erklärt er mir,
„sie krampft immer etwas, aber sie mag es, wenn man sie berührt.“
Etwas zaghaft greife ich nach der gekrampften Hand und sage
ein leises „Hallo, Carina.“
Die Hirnschädigung ist die Folge eines Geburtsfehlers. Große
Teile ihres Gehirns waren zu lange nicht mehr durchblutet gewesen, weil die
Geburt zu lange dauerte und die Ärzte falsch reagierten. Zwar war das
Krankenhaus später zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt worden, aber das
wog die Folgen der Schädigung natürlich nicht auf. Die ersten fünfzehn Jahre
hatte Carina bei ihrer Familie gelebt, aber dann war die Belastung für die
Familie zu groß geworden. Nachdem Sven und Marco ausgezogen waren, hatte die
Last der Pflege nur auf der Schulter der Mutter gelegen und diese an den Rand
ihrer Belastbarkeit gebracht. So hatte die Familie schweren Herzens
beschlossen, Carina in ein Heim zu bringen. Dort besuchte sie jeder aus der
Familie einmal in der Woche und zu den Feiertagen holten sie sie zu sich nach
Hause.
„Sie mag dich“, meint Sven neben mir, „sonst hätte sie
längst weggeschaut.“
Ich fühle mich ein wenig unsicher, weil ich keinerlei
Erfahrung mit solchen Behinderungen habe. Aber ich bewundere Sven für den
liebevollen Umgang mit seiner Schwester. Er streichelt ihr den Kopf und
flüstert ihr liebevoll ins Ohr, während ich mich neben ihn setze und die beiden
beobachte.
„Ich hoffe, du isst gerne Gans“, meint plötzlich Svens
Mutter, bevor sie wieder in die Küche geht. „Das ist nämlich traditionell unser
Essen am ersten Weihnachtsfeiertag. Svennie liebt das. Normalerweise spekuliert
er immer darauf, die Reste mit nach Hause nehmen zu können, aber heute hat er
dich ja dafür mitgebracht.“
Es dauert wirklich nicht lange bis die Spannung von mir
abfällt und ich mich im Kreise von Svens Familie wohl fühle. Natürlich sind sie
ein bisschen neugierig und fragen uns aus. Wie wir uns kennen gelernt haben und
was ich so mache. Sven hat seine Eltern wohl auch ziemlich mit der Ankündigung
überrascht, einen Freund zu haben, den er einladen will. Aber die Fragen zeugen
von ehrlichem Interesse und sind keine blanke Neugier. Deshalb ist es auch kein
Problem, sie ehrlich zu beantworten.
Das Essen schmeckt wunderbar und ich kann mich gar nicht
mehr erinnern, wann ich so etwas Gutes gegessen habe. Wahrscheinlich zuhause
bei meinen Eltern. Meine Mutter kann sehr gut kochen und ich ärgere mich noch
heute sehr, dass ich mich dafür damals rein gar nicht interessiert habe, als
ich noch zuhause gewohnt habe.
Während des Essens sitzt Sven neben seiner Schwester und
füttert sie mit kleinen Bissen. Die Art und Weise, in der er mit ihr umgeht,
zeugt von der Liebe und dem Respekt, den er ihr entgegenbringt. Obwohl sie
nicht dem Ideal entspricht, dem Menschen immer gern entsprechen wollen. Mir
zeigt es aber umso mehr, dass ich mich in den richtigen Menschen verliebt habe.
Inzwischen ist das keine Verliebtheit mehr. Inzwischen ist es schon Liebe.
Nach dem Essen helfe ich mit, den Tisch abzuräumen, obwohl
Gaby immer wieder betont, ich sei Gast und müsse das nicht. Aber ich fühle mich
wie zuhause, vielleicht sogar besser als das. Und ich habe gelernt mitzuhelfen.
Umso schneller sitzen wir wieder alle beisammen. Im Hintergrund läuft leise
Weihnachtsmusik. Die Lichterkette am Baum leuchtet hell und taucht den Raum in
ein gemütliches Licht. Es duftet nach einer Mischung aus Gänsebraten mit
Rotkohl und Apfelsinen, Zimt und Mandeln, die auf dem Weihnachtsteller liegen.
Carina ist eingeschlafen. Ihr Vater hat sie zugedeckt und
ein wenig in die Ecke des Zimmers geschoben. Es ist auffällig, wie gleichmäßig
liebevoll alle mit ihr umgehen.
Wie selbstverständlich hat Sven sich neben mich gesetzt und
den Arm um mich herum gelegt. Mir war das erst etwas unangenehm, aber seine
Eltern scheinen sich wirklich für ihn, für uns, zu freuen. Es ist ein tolles
Gefühl, hier Arm in Arm mit ihm zu sitzen.
Schließlich klingelt es und das Geplapper der Kinder kündigt
den Rest der Familie an. Marco, Silke und die Kinder. Ich bin gespannt, ob sie
einen Verdacht haben, dass ich den Weihnachtsmann gespielt habe. Bisher hatte
ich noch nie das Problem, einen meiner Kunden später wieder zu treffen. Das ist
also jetzt die Stunde der Wahrheit.
Das Aufeinandertreffen mit Marco ist mir ein wenig
unangenehm. Schließlich habe ich ihn ziemlich angepflaumt. Obwohl ich
eigentlich dachte, er sei Sven, aber das zählt ja nicht.
„Hallo, Torben“, begrüßt mich Marco, bevor ich zu einer
Entschuldigung ansetzen kann, „ich hoffe, du greifst mich heute nicht wieder
unnötig an. Aber mein Bruder hat schon dafür gebüßt, dass er mir nicht genug
von dir erzählt hatte.“ Er umarmt mich freundschaftlich und ich kann gar nicht anders als ihn zu mögen.
Erstaunt betrachte ich die beiden Brüder, die auch beide
nebeneinander kaum zu unterscheiden sind. Zumindest äußerlich, denn an der
Stimme und der Gestik sieht man dann ziemlich schnell leichte Unterschiede.
„Ich bin Silke“, stellt sich Marcos Frau vor, während ich
noch versuche, die Unterschiede zwischen den Brüdern zu finden, „glaube mir, es
dauert eine Weile bis du die Jungs auseinander halten kannst“, lacht sie laut.
Die Kinder halten sich wie gestern etwas zurück. Kim ist die
erste, die sich näher an mich herantraut. „Du bist Svens Freund. Hat Mama
gesagt. Aber ein anderer Freund als Lukas, der mein Freund ist. Sven mag dich
sehr gern, hat Mama gesagt. Küsst ihr euch auch?“
Die Frage des kleinen Mädchens führt zu einem prustenden
Lachanfall bei Sven und einem etwas verlegenen Herumdrucksen bei mir. Was soll
ich darauf sagen?
„Na ja … ich … wir … manchmal …“
Bevor ich weiter stammeln kann, nimmt mich Sven einfach in
den Arm und küsst mich. Vor den Kindern, ihren Eltern, Großeltern. Kein
flüchtiger Kuss auf die Wange. Kein Hauch auf die Lippen. Sven küsst mich fest
und bestimmend. Besitzergreifend. Leidenschaftlich und doch voller Zärtlichkeit
und Liebe. In seinen Armen werde ich zu Wachs. Meine Knie werden weich und ich
gebe mich seinem Kuss hin. Für einen kleinen Moment vergessen wir alles um mich
herum. Bis der energische Ton der kleinen Kim uns wieder in die Wirklichkeit
zurückholt.
„Hört jetzt endlich auf zu küssen und kommt ins Wohnzimmer.
Ich will Omas Torte essen.“
So, als wäre das alles das Normalste von der Welt, zerrt sie
an Sven und meinen Hosenbeinen, um uns hinter sich her ins Nachbarzimmer zu
ziehen, wohin die Erwachsenen sich taktvoll zurückgezogen haben. Ich merke
deutlich, wie die Röte mir ins Gesicht steigt, aber auch Svens Eltern und Marco
und Silke scheinen nichts daran zu finden, was wir gerade gemacht haben.
Als wir uns zwei Stunden später voneinander verabschieden,
liegt einer der schönsten Weihnachtstage meines Lebens hinter mir. Ich habe
nicht nur einen festen Freund, sondern auch eine Familie bekommen.
… ein Jahr später …
Der Klingelton erinnert mich an das letzte Jahr. Auch heute
ist dies mein letzter Termin. Ich habe lange überlegt, ob ich ihn wirklich
wahrnehmen soll. Ob ich an Heiligabend wieder in mein Weihnachtsmannkostüm
klettern möchte, war für mich keine Frage, auch wenn es zu einem kleinen Streit
mit meinem Freund geführt hat. Er will einfach nicht verstehen, dass dieser Job
mehr ist als reines Geldverdienen. Es macht Spaß, das Glitzern in den
Kinderaugen zu sehen. Die Kleinen zeigen ihre Freunde noch unverblümt und
ehrlich.
Die Agentur wollte mich noch zu zwei weiteren Familien
schicken, aber da habe ich abgelehnt, denn zum ersten Mal seit dem Rausschmiss
von meinem Vater habe ich eine Einladung zu einer richtigen Familienfeier.
„Hallo Tor…hallo Herr Weihnachtsmann!“ Gaby begrüßt mich mit
einem freundlichen Lächeln. Gerade rechtzeitig hat sie abgebrochen, denn die
Kinder sind ihr neugierig in den Flur gefolgt.
Ich freue mich jedes Mal, wenn ich zu einer bekannten
Familie komme und sehen kann, wie sich die Kinder im Laufe eines Jahres
verändert haben. An die meisten kann ich mich tatsächlich noch erinnern.
Vier Jahre bin ich nun schon in diesem Kostüm unterwegs,
aber ich war selbst beim allerersten Besuch nicht so aufgeregt wie jetzt
gerade. Kommt es mir nur so vor, oder mustert Kim mich argwöhnisch? Das Mädchen
ist inzwischen schließlich schon sieben Jahre alt und kommt langsam in ein
Alter, in dem der Glaube an den Weihnachtsmann verschwindet.
Ich folge Svens Mutter ins Wohnzimmer, wo die Familie sitzt.
Mein Blick wandert durch den Raum, bis er an meinem Freund hängenbleibt. Er
sitzt neben seinem Bruder auf der Couch und hält die Hand seiner Schwester,
deren Rollstuhl neben ihm steht. Er spricht leise auf sie ein. Wenn die Brüder
direkt nebeneinander sitzen, ist es eigentlich gar nicht so schwer sie zu
unterscheiden. Allein das Strahlen aus Svens Augen zeigt mir deutlich, wer mein
Mann ist, aber seine Nase ist auch ein wenig krummer, seit er als Kind einen
Unfall hatte. Ein Schönheitsfehler, der ihn nur interessanter macht.
„Können wir nicht noch ein bisschen warten?“, fragt Kim. „Torben
ist doch noch nicht da und der soll auch ein Geschenk vom Weihnachtsmann
bekommen.“
Ich schlucke und merke, wie die Röte in mein Gesicht
schießt, während Sven hinter vorgehaltener Hand losprustet.
„Torben muss noch arbeiten und kommt erst später“, erklärt
Marco seiner Tochter. „Aber ich bin sicher, dass der Weihnachtsmann ein
Geschenk für ihn hat und es hierlässt, wenn er gehen muss.“
„Ich will aber, dass …“
Marco legt einen Finger auf den Mund seiner schmollenden
Tochter und redet leise auf sie ein. Sven kichert leise und auch der Rest der
Familie hat Mühe Haltung zu bewahren. Nur ich muss mich beherrschen.
Mein Kopf taucht in den riesigen Sack und wühlt in den
Geschenken. Mit ein paar tiefen Atemzügen versuche ich mich zu beruhigen. Ich
bin schließlich Weihnachtsmannprofi und werde diese Aufgabe auch bewältigen.
Danach beginnt die Freizeit.
Nach und nach verteile ich die kleinen und großen Päckchen,
mal mit lobenden, aber auch mal mit mahnenden Worten. Während der ganzen
Prozedur spüre ich Kims Blick auf mir. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie
ahnt, dass hier etwas faul ist, auch wenn sie sich nach außen nichts anmerken
lässt und auch brav ihr Gedicht aufsagt.
Ganz unten in dem Sack liegt tatsächlich ein Geschenk mit
meinem Namen. Ich stutze und zögere einen Moment, bevor ich das Päckchen
hervorhole.
„Ich habe hier noch ein Geschenk für Torben“, sage ich, während mein Blick über die Gesichter der Familie schweift. Meinen Freund überspringe ich bewusst, denn es fällt mir unendlich schwer, die ganze Zeit so zu tun, als würden wir uns nicht kennen.
„Ich habe hier noch ein Geschenk für Torben“, sage ich, während mein Blick über die Gesichter der Familie schweift. Meinen Freund überspringe ich bewusst, denn es fällt mir unendlich schwer, die ganze Zeit so zu tun, als würden wir uns nicht kennen.
„Torben ist noch nicht da“, erklärt Kim. „Er muss noch
arbeiten. Wenn du es mir gibst, werde ich ihm das Geschenk geben, wenn er
kommt.“ Sie reißt mir das Päckchen förmlich aus der Hand. „Da ist ein Herzchen
neben Torbens Namen“, quietscht Kim entzückt. „Guck mal, Sven. Da mag noch jemand den Torben so wie du.“
Plötzlich verdunkelt sich ihr Blick und sie sieht mich interessiert an. „Bist
du schwul, Weihnachtsmann? Liebst du den Torben auch? Das wäre ziemlich blöd,
denn Torben liebt meinen Onkel Sven und der liebt ihn.“
Bevor ich eine Antwort stammeln kann, rettet Gaby die
Situation. Sie schiebt mich mit ein paar Entschuldigungen in den Flur und
verabschiedet mich. „Bis gleich.“
Auf dem Weg zu meinem Auto lässt mich das Geschenk mit
meinem Namen nicht in Ruhe. Ich habe keinen Zweifel, von wem es ist. Das Herz
allein sagt schon genug aus. Aber Sven und ich haben doch heute Morgen schon
Bescherung gemacht. Glücklicherweise, denn ich hätte die glitzernde Unterhose
und die Vorratspackung an Kondomen und Gleitgel wahrlich nicht vor den Augen
der gesamten Familie auspacken wollen. Dagegen war das Konzertticket, das ich
ihm geschenkt habe, wirklich ziemlich bieder.
Svens Wohnung ist nur drei Straßen entfernt, so dass ich
beschlossen habe, mich dort umzuziehen. Schließlich leben wir sowieso meist
dort. Das ist bequemer als im Auto und dauert auch nicht viel länger. Zwanzig
Minuten später klingle ich erneut an der gleichen Haustür.
„Torben … endlich!“
Kim reißt die Tür auf und ehe ich mich versehe, hängen auch
Leon und Yannick an meinem Hosenbein. Lachend hebe ich den Kleinsten hoch und
streiche seinem Bruder über den Kopf, während Kim bereits an mir zerrt.
„Du hast auch ein Geschenk vom Weihnachtsmann“, erklärt sie.
„Mit einem Herz drauf. Aber ich habe ihm gleich gesagt, dass du Onkel Sven
liebst und er dich.“
Obwohl wir uns vor kurzer Zeit schon gesehen haben, spielen
alle Erwachsenen mit und begrüßen mich förmlich. Mein Freund nimmt mich in den
Arm und küsst mich stürmisch. Auch nach einem Jahr ist es für mich immer noch
seltsam, wie offen und ungezwungen er mit unserer Liebe im Kreis seiner Familie
umgeht. Für einen Augenblick gibt es nur uns und die Anspannung fällt vollends
von mir ab.
„Hier ist das Geschenk, Torben. Du musst es auspacken“,
verlangt Kim energisch. „Schade, dass du nicht da warst, als der Weihnachtsmann
es gebracht hat.“
Mit zitternden Finger öffne ich die Schleife und löse die
Klebestreifen.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, flüstert Sven in mein
Ohr, bevor er genüsslich das Ohrläppchen in den Mund nimmt und daran saugt. „Es
ist nicht peinlich.“
Vorsichtig wickle ich das Paket aus und finde den Pullover,
den ich neulich so toll fand, als wir zusammen shoppen waren. Er war zu teuer
und am Ende siegte die Vernunft über die Sehnsucht. Es gibt viele Dinge, die
wichtiger sind als ein neuer Pullover, wenn man auf sein Geld aufpassen muss.
„Du bist verrückt!“ Strahlend falle ich meinem Freund um den
Hals. Vielleicht sollte ich ein schlechtes Gewissen haben, aber ich weiß, dass
er sich den Preis leisten kann und deshalb freue ich mich einfach nur. „Danke.“
„Zieh ihn an. Er sieht toll an dir aus.“ Sven küsst mich
erneut und lässt sich dann schmunzelnd wieder auf die Couch fallen. Schnell
schlüpfe ich in den Pullover und drehe mich einmal um die eigene Achse. „Viel
lieber würde ich dich allerdings wieder ausziehen …“
Ich werde rot und freue mich, dass Gaby uns zum Essen an den
Tisch ruft. Nach dem Dessert ziehen die Kinder mich in die Ecke, in der ihre
Geschenke liegen. Ich muss alles ausgiebig begutachten und sie nehmen mir das
Versprechen ab, mit ihnen zu spielen, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Die
beiden Kleinen werden langsam müde und sollen ins Bett, damit die Erwachsenen
noch ein Weilchen miteinander reden können. Kim besteht darauf, dass ich sie
ins Bett bringe.
„Ich weiß, dass du unser Weihnachtsmann warst“, zischt sie
mir ins Ohr. „Yanni und Leo sind zu klein und blöd, aber ich weiß das.“
„Woher?“, frage ich leise zurück, da ich genau weiß, dass
Leugnen zwecklos ist.
„Deine Schuhe. Du hast die gleichen Schuhe an wie der
Weihnachtsmann. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass du dem
Weihnachtsmann dein Auto borgst. Ich habe genau gesehen, wie du eingestiegen
bist.“
Daran hatte ich nicht gedacht. „Danke, dass du mich nicht
verraten hast.“
„Ich bin doch schon groß und ich petze nicht.“ Das Mädchen
springt mir in die Arme und gibt mir einen dicken Kuss auf die Wange. „Außerdem
finde ich es lustig, dass die Erwachsenen immer so tun, als glaubten sie an
dich.“ Ich muss schmunzeln. „Aber ich mag dich als Torben noch lieber. Seit er
mit dir zusammen ist, ist Onkel Sven viel lustiger.“
Als die Kinder endlich alle im Bett sind, sitzen wir im
Kreise der Familie noch eine Weile zusammen. Svens Arm liegt auf meiner
Schulter und streichelt mich unablässig. Ich genieße es, auch wenn ich mich
schon auf den Augenblick freue, an dem wir allein sind. Die Wehmut, die an den
Feiertagen lange Zeit mein Denken bestimmt hat, ist weg. Svens Familie hat mich
ohne Vorbehalte in ihren Kreis aufgenommen. Sie ist jetzt meine Familie.
oooooOOOOOOOooooo
Da die Weihnachtszeit auch eine Zeit der Geschenke ist, soll es heute neben der kleinen Geschichte noch die Möglichkeit für einen Gewinn für euch geben.
Hier habt ihr ein paar Namen, schafft ihr die richtigen Paare zusammen zu stellen?
Jeder, der mindestens zwei Paare richtig nennt, hüpft in den Lostopf und kann sich dann über einen signierten Print nach Wahl freuen.
Andreas Tobi Martin Tom Erik Florian Mirko Christian Gregor Tim
Habt ihr ein Lieblingspaar davon?
Morgen geht es weiter bei France Carol .
Christian & Andreas (hab ich gerade erst vor ein paar Tagen erneut gelesen 😍 Und sind auch mein Lieblingspaar)
AntwortenLöschenGregor & Martin
Florian & Tim
Bei den anderen muss ich raten:
Tobi & Tom
Erik & Mirko
Aus Licht am Horizont kenne ich Florian und Tim und natürlich auch Martin und Gregor aus Licht am Ende des Tunnels.
AntwortenLöschenMir gefallen deine Geschichten und lese gerne Neues von dir auf ff.de.
Wann geht es denn mit dem Katerfrühstück weiter?
Schöne Vorweihnachtszeit
SaSiVa
Hallo Mia,
AntwortenLöschendankeschön für die schöne Weihnachtsgeschichte.
So, dann komme ich mal zu den Paaren.
Florian - Tim
Martin - Gregor
Andreas - Christian
Tobi - Tom
Erik - Mirko (an ihre Geschichte kann ich mich jetzt zwar nicht mehr erinnern, aber da ihre Namen übrig bleiben, müssen sie zusammen gehören)
LG Piccolo
Also meine Paare lauten
AntwortenLöschenEric und Mirko
Gregor und Martin
Florian und Tim
Tom und Tobi
Übrig blieben noch
Andreas und Christian
Vielen Dank für das dritte Türchen 😊
LG Bea
Christian und Andreas (mein absolutes Lieblingspärchen)
AntwortenLöschenFlorian und Tim
Martin und Gregor
Tim und Tobi
Eric und Mirko
Eine wunderschöne Weihnachtsgeschichte, vielen Dank dafür :).
AntwortenLöschenGregor und Martin
Florian und Tim
Dann erinnere ich mich noch an Tim und Tobi, das war dann aber auch schon. Vielleicht sollte ich mal wieder einige deiner Geschichten lesen, scheint zu lange her zu sein ;)
Liebe Grüße und einen schönen Abend,
Pummeluff
Die Ziehung der Lose hat einen Sieger/eine Siegerin ergeben: Jungbrunnen
AntwortenLöschenBitte melde dich per PN auf Facebook oder unter mia.grieg@gmx.de, um mir deinen Wunschtitel und Namen und Adresse mitzuteilen.
Herzlichen Glückwunsch!
Mia
Hallo Mia,
AntwortenLöschendas ist eine sehr schöne Geschichte! Ich kenne sie zwar schon, aber habe sie noch einmal gelesen! ;)
Alles Liebe
Christina
War eine tolle Story danke
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