Mittwoch, 2. Dezember 2015

Adventskalender 3.Dezember 2015


Willkommen zu meinem ersten Beitrag zu unserem kleinen Adventskalender. Da meine geplante Geschichte noch zu unvollendet ist, um den ersten Teil hier zu posten, habe ich etwas anderes aus der Schatztruhe gekramt, das mit Weihnachten zu tun hat.

Der Weihnachtsmann

Wilhelmstraße. Na endlich. Nun muss ich nur noch diese dämliche Hausnummer finden. 195 p. Ich bin spät dran. Der letzte Auftritt hat fast eine halbe Stunde länger gedauert als eingeplant war. Immerhin ist es mir gelungen, den kleinen Wicht davon zu überzeugen, dass der Weihnachtsmann ganz lieb ist und man keine Angst vor ihm haben muss. Eigentlich war er ja echt süß, der Zwerg. Aber der Weihnachtsmann hat ihn doch mächtig erschreckt. Dabei habe ich mir sogar nur den kleinen Bauch umgeschnallt. Einige meiner Kollegen verzichten sogar ganz darauf, aber in meiner Vorstellung muss der Weihnachtsmann einen Bauch haben. Vielleicht habe ich deshalb in diesem Jahr sogar schon ein paar Kunden aus dem letzten Jahr, die darauf bestanden haben, mich wieder zu bekommen. Schade, dass Weihnachtsmänner nur an einem einzigen Tag im Jahr benötigt werden. Der Job macht mir von allen, die ich mache, um mir mein Studium leisten zu können, am meisten Spaß. Lukrativ ist er auch noch. Zusätzlich zu dem vereinbarten Honorar habe ich schon 50 € Trinkgeld bekommen. So ist es wenigstens für etwas gut, dass ich Heiligabend schon wieder allein bin. Eigentlich bin ich gern allein, aber gerade an den Weihnachtstagen fühle ich mich schon etwas einsam. Es ist jetzt bereits mein viertes Fest. Eigentlich sollte ich mich daran gewöhnt haben. Aber gerade an den Tagen denke ich doch an meine Familie. Verrückt. Schließlich hat mein Vater mir ziemlich deutlich genacht, dass er mich nicht mehr als seinen Sohn ansieht. Eigentlich hat er mir ja sogar die Wahl gelassen, ob ich weiterhin ein Teil der Familie sein will oder nicht. Ich müsste nur meinen abartigen Lebensstil aufgeben, schon könnte ich wieder nach Hause. Doch das kann und will ich nicht. Ich habe eine Weile gebraucht, um für mich zu akzeptieren, dass ich schwul bin. Auch wenn ich mir das nicht ausgesucht habe, ist es eben so. Ich kann und will mich nicht verstecken. Es war ein langer Weg bis dahin, aber ich habe es geschafft. Auch ohne die Unterstützung meiner Eltern.
190. Ich komme näher. Es ist schon fast fünf Uhr. Ich möchte ungern zu spät kommen.
Die letzte heile Familie für heute. Danach bin ich den Rest der Feiertage allein. Ein kleines bisschen hatte ich gehofft, dass Sven doch noch Zeit für mich hat. Wir treffen uns nun schon seit fast einem Jahr regelmäßig und ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass wir auch Weihnachten zusammen feiern. Es hat mich ziemlich getroffen, als er mir letzte Woche eröffnet hat, dass er die ganzen Feiertage nicht kann. Natürlich geht die Familie vor, aber es tut trotzdem ein bisschen weh.
193 und 195. Es geht einen Durchgang entlang. Wunderbar. Parkplätze gibt es hier wenig. Egal. Der Weihnachtsmann darf auch mal halblegal parken. Legen wir die 5-m-Regel mal großzügig aus. Bart anlegen, Mütze aufsetzen und dann den Spickzettel noch einmal durchlesen, während es mit schnellen Schritten den eisigen Weg entlang geht. Drei Kinder, zwei Jungs und ein Mädchen. Drei, vier und sechs Jahre alt. Kim, das Mädchen, ist die Älteste, dann kommt Leon und der Kleine heißt Yannick. Für jedes Kind sind noch ein paar Stichworte notiert. Schließlich bin ich der Weihnachtsmann und der weiß alles!
195 m … n … o … p. Hier ist es. Ein schneller Blick auf das Handy zeigt mir, dass ich noch pünktlich bin. Wie versprochen steht der Sack mit den Geschenken in dem kleinen Schuppen in der Ecke des Vorgartens. Wenn ich sehe, wie viele Geschenke hier wieder verpackt worden sind, wird mir ganz anders. Der Sack ist genauso groß und voll wie heute Morgen, als ich ehrenamtlich im Kinderheim war, um die Kinder zu bescheren. Da hat jeder ein kleines Geschenk bekommen und dennoch haben sich die Kleinen gefreut wie die Schneekönige. Hier hingegen gibt es wieder Geschenke im Überfluss. Aber so ist wohl der Lauf der Welt heutzutage.
Ding dong ... ding dong … ding dong
Die Tür öffnet sich und eine ältere Dame begrüßt mich. Sicher die Oma der Kinder.
„Schaut doch mal her“, ruft sie laut in das angrenzende Zimmer, aus dem lautes Geplapper dringt. Sofort erscheint ein neugieriger Kinderkopf im Türrahmen. Ich nehme an, dass es Leon ist. Als er mich sieht, rennt er gleich wieder weg. „… wen ich hier mitgebracht habe“, vollendet die Oma den Satz und schiebt mich vor sich her in das große Wohnzimmer. Dort sitzt wohl die ganze Familie beisammen. Kinder, Eltern und Großeltern. Am bunt geschmückten Weihnachtsbaum brennt die Lichterkette als einzige Lichterquelle. Im Hintergrund läuft leise Weihnachtsmusik.
„Wisst ihr denn, wer ich bin?“, frage ich mit meiner tiefen Weihnachtsmannstimme und lasse den Blick langsam über die Anwesenden gleiten. Die beiden Kleinen haben sich zu Mama und Oma auf die Couch verzogen, während die Große auf Papas Schoß sitzt.
Papas Schoß? Papa? Mein Herz setzt urplötzlich aus mit dem Schlagen. Der Sack rutscht mir aus der Hand und fällt auf den Boden. Durch das Geräusch komme ich wieder zu mir. Doch auch das Zukneifen der Augen hilft mir nicht weiter. Der Typ dort, der eindeutig der Vater der Kinder ist, das ist Sven. Mein Sven. Der erste Mann, mit dem ich mir eine Beziehung vorstellen konnte. Mit dem ich insgeheim eigentlich schon eine Beziehung geführt habe. Auch wenn wir nie darüber gesprochen haben. Aber es hat halt alles gepasst. Wir haben die gleichen Interessen und den gleichen Humor. Der Sex ist grandios. Er sieht toll aus. Mit ihm will ich den Rest meines Lebens verbringen. Dachte ich zumindest bis eben. Er schaut mich an. Lächelt mich an. Als ob nichts geschehen wäre. Mir kommt gleich mein Frühstück wieder hoch. Zum Glück habe ich seit dem nichts mehr gegessen. Sonst könnte ich für nichts garantieren. Am liebsten würde ich auf der Stelle umkehren, aber das kann ich den Kindern nicht antun. Sie würden für immer den Glauben an den Weihnachtsmann verlieren. Also zwinge ich mich dazu, mich wieder zu konzentrieren. Nur noch diese Bescherung, dann habe ich Feierabend. Zum Glück hat meine Stammkneipe auch am Heiligabend geöffnet. Ab 18 Uhr. Passt ja hervorragend. Wird wohl mein erstes Fest im Vollrausch werden. Keine Ahnung, was armseliger ist. Einsam zu sein oder besoffen und einsam zu sein.
„Hast du auch Geschenke für uns mit?“
Die Stimme des Mädchens reißt mich aus meiner Lethargie. Sie steht plötzlich neben mir und zupft an meiner Jacke. Ich muss nur noch diese paar Minuten durchstehen. Dann kann ich mich meinem Kummer hingeben. Was hatte damals schon immer der Typ in der Schule gesagt, der unseren Theaterkurs geleitet hat? „Blende deine Gedanken einfach aus und spiele deine Rolle…“ Meine Rolle ist der Weihnachtsmann. Das muss doch hinzubekommen sein.
„Wenn du artig gewesen bist, habe ich auch etwas für dich in meinem großen Sack“, sage ich. „Du bist Kim, nicht wahr?“
Die Kleine nickt. „Kim Winter“, meint sie, „ich bin auch immer artig gewesen.“
Wenn ich eine Bestätigung gebraucht hätte, hätte ich sie jetzt bekommen. Winter. Klar, Sven Winter. Toll. Verheiratet ist er also auch. War wahrscheinlich alles ein so unwichtiges Detail, das es nicht wert war, erwähnt zu werden, wenn er sich mit mir in den Laken wälzte. Ich atme tief ein und aus und rufe mich innerlich zur Ruhe. Ich bin der Weihnachtsmann und nicht Torben Schäfer, der größte Idiot auf Gottes Planeten.
„So, so, du bist also immer artig gewesen“, wiederhole ich mit meiner tiefen Stimme, „können das denn deine Eltern und deine Geschwister auch bestätigen?“
Die Kleine weicht ein wenig zurück und guckt sich ängstlich zu ihrem Vater, doch bevor der ihr zustimmen kann, rede ich schon weiter.
„Aber ich glaube, du hast recht. Die meiste Zeit jedenfalls warst du wohl recht lieb. Ich habe nur gehört, dass du manchmal deine kleinen Brüder ziemlich ärgerst. Das ist nicht nett. Schließlich bist du die Älteste und Vernünftigste.“
„Leon ärgert mich aber auch immer“, verteidigt sich die Kleine mit einem trotzigen Schmollmund. Dennoch ist ihr der Respekt vor dem Weihnachtsmann nicht abzusprechen. Was ein Kostüm so ausmachen kann.
„Dann wollen wir doch mal sehen, ob ich in meinem großen Sack ein Geschenk für dich habe. Hast du denn auch ein kleiner Gedicht gelernt?“
Stolz baut das Mädchen sich vor mir auf und beginnt, ein Gedicht aufzusagen. Die Kleine ist niedlich. Unter anderen Umständen würde ich sie sicher mögen. Ich mag Kinder, auch wenn ich wahrscheinlich selbst nie welche haben werde.
„Das war sehr schön“, lobe ich sie und reiche ihr feierlich das große Paket, das mit ihrem Namen versehen in dem Sack steckte. „Dann wollen wir mal sehen, ob für deine Brüder auch etwas da ist.“
Die kleinen Jungs kuscheln sich ängstlich an ihre Mutter. Sie wenden schüchtern den Blick ab, als ich mich ihnen zuwende. Die Mutter spricht leise auf die beiden ein und schiebt sie behutsam in meine Richtung. Hand in Hand kommen die Zwerge ein Stück näher. Ich gehe in die Hocke, um ihnen näher zu sein. Mit diesem dicken Bauch ist das gar nicht so einfach. „Du bist Leon, nicht wahr?“, begrüße ich den Größeren, „und du Yannick.“ Sie nicken beide stumm.
Für die Kleinen ist es nicht einfach schon etwas aufzusagen. Aber mit ein wenig gutem Zureden fangen sie an, ein Weihnachtslied zu singen. Süß! Die Stimmen klingen hell und klar. Mein Blick wandert von den beiden Jungs vor mir über den Rest der Familie. Sie schauen aufmerksam zu. Alle lächeln. Auch Sven. Am liebsten würde ich ihm hier vor seiner Familie eine handfeste Szene machen. Er tut noch immer so, als würde er mich nicht kennen. Ich bin wütend und dennoch tut es mir weh. Mein Herz zieht sich zusammen und einen Moment habe ich Angst, keine Luft mehr zu bekommen. Ich atme bewusst tief ein und aus und versuche, den dicken Kloß hinunterzuschlucken, der sich in meinem Hals verfangen hat. Wut wäre sicher einfacher. Leider überwiegt der Schmerz. Immerhin gelingt es mir, den verdächtigen Druck in meinen Augen zu überwinden. Ich werde jetzt nicht anfangen zu heulen. Nicht hier. Nicht vor ihm und seiner Familie. Obwohl er es verdient hätte.
„Sehr gut, sehr gut“, lobe ich den Gesang und krame etwas länger als unbedingt nötig in dem Sack herum. „Für Leon“, reiche ich dem aufgeregten Jungen sein Geschenk, „und für Yannick …“
Die Kinder sind mit ihren ersten Geschenken beschäftigt. Nun wende ich mich erst einmal den Erwachsenen zu. Es geht erstaunlicherweise ganz gut. Ein Paket nach dem anderen nehme ich aus dem Sack und suche den Empfänger. Silke. So heißt seine Frau. Sven und Silke Winter. Welche Idylle! Mit einem freundlichen Lächeln nimmt Silke mir das Paket aus der Hand. Sie sieht offen und ehrlich aus. Sie scheint vom Doppelleben ihres Mannes wirklich keinen blassen Schimmer zu haben. Arme Frau!
Marco. Eigentlich haben doch alle schon ein Geschenk bekommen. Außer ihm. Sven.
„Marco“, rufe ich laut und blicke in die Runde.
Warum verwundert es mich nicht, dass Sven sich erhebt und mir entgegen kommt.
„Das bin ich“, ruft er mit seiner Stimme, die mir jedes Mal wieder einen wohligen Schauer über den Rücken jagt und mir auch jetzt ein Kribbeln im Bauch einbringt. „Leider kann ich weder singen noch ein Gedicht. Ich hoffe, ich bekomme trotzdem ein Geschenk von dir, Weihnachtsmann!“
Mein Körper sendet mir all die Signale von Verliebtheit und doch ist das alles andere als ein Treffen unter Liebenden. Ich sehe sein lächelndes Gesicht und merke, wie die Wut immer mehr in mir hochsteigt. Ich muss hier raus. Schnellstmöglich. Marco. Nicht einmal seinen richtigen Namen hat er mir genannt, als wir uns kennenlernten. Auf jeden Fall ist er der perfekte Schauspieler.Freundlich und jovial nimmt er mir das Paket ab und bedankt sich.
Ich habe es auf einmal eilig. Ich verabschiede mich mit ein paar guten Wünschen von den Kindern und den Erwachsenen. Ungeduldig warte ich im Flur auf meine Bezahlung. Wenn ich das Geld nicht so dringend bräuchte, würde ich darauf verzichten. Die Tür geht auf. Ausgerechnet er. Er streckt mir das Geld entgegen und dankt mir noch einmal. Freundlich, aber vollkommen unpersönlich. Gefangen in seiner Rolle als braver Familienvater. Allein mit ihm siegt die Wut über all die anderen Gefühle, die in mir toben.
„Du kannst dein blödes Spiel ruhig durchhalten, Marco …“ Ich spucke den Namen geradezu aus. „… tu so, als würdest du mich nicht kennen, du Arschloch …“ Ich muss mich echt beherrschen, nicht zu schreien. Aber heute ist Heiligabend. Da gibt es keine offene Szene unterm Weihnachtsbaum. Ich will hier nur noch weg. „…blödes, verlogenes Arschloch“, gifte ich, „vergiss alles, was ich mal zu dir gesagt habe.“
Ich mache auf dem Absatz kehrt und reiße die Tür auf. Das erstaunte Gesicht bekomme ich noch aus dem Augenwinkel mit. Er ruft mir etwas nach, will mich zurückhalten, aber ich falle in einen Laufschritt, bis ich bei meinem Auto angelangt bin. Zitternd stecke ich den Schlüssel ins Zündschloss und starte den Wagen. Er kommt mir nach, steht winkend vor dem Haus. Doch ich fahre mit quietschenden Reifen los. Die Tränen, die meinen Blick nun endgültig verschleiern, blinzele ich weg. Ich bin viel zu schnell unterwegs. Das weiß ich. Aber die Polizei wird hoffentlich ein Einsehen haben und heute keine Radarkontrollen machen. Wer will außerdem den Weihnachtsmann verurteilen?

„Noch einen“, rufe ich Sandra zu, die heute Dienst im „Stübchen“ hat. Was bin ich froh, dass meine Stammkneipe wenigstens geöffnet ist heute. Außer mir hat es zwar nur zwei ältere Männer hierher verschlagen, aber alles ist besser, als jetzt allein zuhause zu sitzen. Mein Nachbar am Tresen versucht, sich mit mir zu unterhalten, aber ich habe keine Lust auf Konversation. Ich will Alkohol Wenn das das erste Weihnachtsfest im Vollrausch wird, dann ist es eben so. Fünf Tequila habe ich schon und langsam merke ich die Wirkung. Zumal ich kaum etwas gegessen habe den ganzen Tag. Aber ich habe ja zwei Tage Zeit zum Ausnüchtern. „Noch einen“, wiederhole ich ungeduldig und schiebe mein leeres Glas zu der Bedienung hinüber. Ich kenne Sandra schon ziemlich lange. Sie arbeitet schon ein paar Jahre hier. Wir verstehen uns gut. Sie hat mir heute gleich angesehen, dass etwas passiert sein muss. Aber sie hat keine weiteren Fragen gestellt. Dabei muss es ein Bild für Götter sein, wenn ein Weihnachtsmann sich volllaufen lässt. Nun ja, nur noch ein halber Weihnachtsmann, denn den Bart und die Perücke mit Mütze habe ich dann doch abgelegt.
„Mach mal eine Pause“, sagt Sandra und stellt mir eine Cola und ein Sandwich vor die Nase, „willst du mir nicht sagen, was los ist? Da muss doch etwas passiert sein bei dir.“
Vehement schüttle ich den Kopf. „Noch `nen Schnaps“, fordere ich trotzig, „kann dir doch egal sein.“
„Ist es aber nicht, Torben“, sagt Sandra mit leiser Stimme. „Heute ist Weihnachten. Allein die Tatsache, dass du hier bist und dich besäufst, finde ich schade.“
„Du bist doch auch hier.“
„Ich arbeite hier.“
„Weil du nichts Besseres zu tun hast an Heiligabend.“
„Iss das Brot und dann reden wir ein bisschen“, sagt sie, ohne weiter auf mich einzugehen. Die anderen Gäste verlangen ihre Aufmerksamkeit. Ich sträube mich zunächst noch etwas, doch dann beiße ich in das Sandwich. Eigentlich habe ich schon ein bisschen Hunger und ich weiß, dass es mir besser bekommt.
Schließlich kommt Sandra zu mir zurück. Sie drängt mich nicht, aber mit einem Mal sprudelt es nur so aus mir heraus. Am Anfang noch ein bisschen zögerlich, doch dann immer mehr. Sandra kann sich sogar noch an Sven erinnern, weil wir schon ein paar Mal gemeinsam hier waren. Es tut gut zu reden. Ich merke, dass ich mich langsam beruhige. Auch wenn ich noch immer wütend bin und enttäuscht.
„Hier bist du! Endlich habe ich dich gefunden!“
Die Stimme. Sven. Nein, Marco. Er wagt es tatsächlich, hier aufzutauchen. Ich drehe mich um und schaue ihn an. Er hat sich umgezogen. Jetzt sieht er nicht mehr aus wie der brave Familienvater Marco an Weihnachten, jetzt ist er wieder mein Sven. Nein, nicht mein Sven. Es gibt keinen „meinen Sven“ mehr. Zum einen, weil er gar nicht Sven heißt und weil ich nicht bereit bin, meinen Freund zu teilen mit einer Familie. Egal ob ich ihn liebe oder nicht. Auch wenn es gerade beschissen wehtut.
„Ich muss dir was erklären, Torben“, sagt Sven, indem er sich neben mich auf den Barhocker setzt. Als er mich anfassen will, rücke ich ein Stück von ihm weg.
„Was gibt es da zu erklären?“, frage ich wütend, „Marco …“ Ich spucke ihm seinen richtigen Namen fast ins Gesicht. „Ich habe dir alles gesagt, was zu sagen war. Ich habe mich eben sehr in dir getäuscht.“
„Es ist nicht so wie es scheint, Torben.“
Verdammt, wie kann man so ruhig bleiben wie er. Na klar, weil die großen Gefühle, die er mir vorgespielt hat, eben nur Show waren. Er hat ja seine Familie. Die Frau und die Kinder. Nur den Kerl für den Spaß nebenbei, den hat er jetzt nicht mehr. Auch wenn es wehtut. Aber dafür bin ich mir zu schade. Ich bin nicht der Typ für die versteckten Stunden.
„Ich bin Sven …“
„… und ich der König von China“, unterbreche ich ihn zynisch, „vergessen, dass ich dir dein Weihnachtsgeschenk selbst gegeben habe, Marco. Du bist so erbärmlich.“
Wenn es mir helfen sollte, ihn zu beschimpfen, dann tut es das nicht. Ich fühle mich genauso beschissen wie vorher.
„Ich bin wirklich Sven“, behauptet er bestimmt. Er nimmt meinen Kopf in seine Hände und zwingt mich, ihm ins Gesicht zu sehen. „Marco ist mein Bruder. Mein Zwillingsbruder. Wir sind eineiige Zwillinge. Du warst bei meinen Eltern zuhause und hast fast meine ganze Familie kennengelernt.“
Ich lache etwas hysterisch auf. Wenn ich ihn so höre, möchte ich ihm fast glauben. Wenn es nicht so unglaublich wäre. Wenn ich ihn nicht selbst im Kreis seiner Familie erlebt hätte. „Und wo warst du dann?“, frage ich hart, „hast du mir nicht erzählt, du feiertest mit deiner Familie. Wenn das dein Bruder war, wo warst du dann?“
„Im Stau“, sagt Sven ruhig, „hör mir einfach einmal zu, bitte.“
Widerwillig und trotzig schaue ich ihn an. Ich bleibe stumm und gebe ihm so die Möglichkeit zu reden.
„Ich habe meine Schwester aus dem Heim abgeholt“, erklärt Sven leise, „auf der Autobahn war ein Unfall und eine Vollsperrung. Ich bin erst vor einer Stunde bei meinen Eltern angekommen. Marco hat mir gleich, als ich kam, erzählt, dass der Weihnachtsmann ihn mit mir verwechselt hatte. Mir war sofort klar, dass du es warst. Ich bin sofort los, um dich zu suchen. Meine Eltern sind sicher sauer, aber du bist mir wichtiger.“ Etwas zaghaft greift er nach meiner Hand und verschränkt seine Finger mit meinen. „Du bist mir wichtiger, Torben. Viel wichtiger. Weil ich mich, verdammt noch mal in dich verliebt habe.“
Ich höre seine Worte, doch mein alkoholumnebelter Verstand braucht einen Moment, um sie auch zu verstehen. Ich möchte sie so gerne verstehen. Und glauben. Er ist in mich verliebt. Wie ich.
„Es tut mir leid, dass du das alles so erleben musstest, Torben“, meint Sven leise und küsst mich zärtlich auf den Mund. „Ich hätte dich an Weihnachten nicht allein lassen dürfen. Schließlich weiß ich doch, dass du keine Familie hast zum Feiern. Ich hoffe, du verzeihst mir.“
Seine Hand liegt in meinem Nacken und zieht mich näher an sich heran. Ich rieche Sven und ich schmecke seine Lippen. Spätestens jetzt ist der letzte Rest meines Widerstands gebrochen. Mein Herz pocht wie verrückt und in meinem Bauch flattern die Schmetterlinge los. Seine Lippen schmiegen sich sanft auf meinen Mund und seine Zunge teilt meine Lippen. Nur zu gern lasse ich ihn hinein in meine Mundhöhle. Mal zärtlich, mal hart presst er sich gegen mich. Wir vergessen alles um mich herum und trotz meines Zustandes merke ich, wie mein Körper auf die Zärtlichkeiten reagiert, Erst das leise Räuspern Sandras lässt uns stoppen.
„Ihr solltet wohl lieber nach Hause gehen, Jungs“, sagt sie lachend, „fröhliche Weihnachten.“

„Natürlich kommst du mit, keine Widerrede.“
Sven küsst mich zärtlich, bevor er seinen Kopf auf den Unterarm abstützt und auf mich herabsieht. Ich bin hin und hergerissen und weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin aufgeregt. Die Nacht, die wir beide hinter uns haben, sollte doch eigentlich Beweis genug sein, dass es ein „uns“ gibt. Noch immer kleben vertrocknete Reste unseres Spermas auf meinem Bauch und in meinem Schlafzimmer riecht es nach Sex.
Eigentlich war es gestern Abend keine Frage mehr, was wir tun. Nachdem Sandra uns mehr oder weniger rausgeworfen hat und wir unter dem Applaus der anderen Gäste gegangen waren, hat uns der Weg direkt in meine Wohnung geführt. Daran gab es keinen Zweifel.
Ausgehungert sind wir übereinander hergefallen. Den Weg von der Wohnungstür bis zum Schlafzimmer säumen unsere Sachen und die erste Welle des Orgasmus überkam mich kurz nachdem wir gemeinsam aufs Bett gefallen sind. Die Müdigkeit und der Schwips waren wie weggeblasen und wir haben uns gegenseitig auf jede erdenkliche Weise verwöhnt. Worte waren erst mal genug gewechselt und so haben wir beide Taten sprechen lassen bis wir erschöpft eingeschlafen sind.
Vor einer guten Stunde wurde ich von Sven auf liebevolle Weise geweckt. Liebevoll allein trifft es nicht ganz. Als ich von seinem Tun erwachte, steckte mein harter Schwanz schon in seinem Mund und ich war kurz davor, mich in ihm zu entladen. Erst danach hat Sven mir eröffnet, dass er mich heute mitnehmen will zu seiner Familie.
Es ist der erste Weihnachtsfeiertag und ich bin schuld, dass Sven den Heiligabend nicht im Kreis seiner Familie feiern konnte. Weil er sofort nach seiner Ankunft wieder losgefahren ist, um mich zu suchen. Weil ich ihm wichtiger war als seine Familie.
Er hat mir viel von seiner Familie erzählt, während wir eng aneinander gekuschelt in meinem Bett lagen heute Nacht. Von seinen Eltern, die ihn lieben, obwohl er ihnen gesagt hat, dass er schwul ist. Von seinem Zwillingsbruder Marco und dessen Familie. Und von seiner Schwester Carina, die fünf Jahre jünger ist als die Jungs und schwerstbehindert. Sie lebt in einem Pflegeheim knapp zwei Autostunden entfernt, aber zu den Feiertagen holt man sie immer nach Hause zurück. Auf der Fahrt war Sven gestern steckengeblieben und deshalb zur Bescherung nicht da gewesen. Sonst wäre es gar nicht zu den Missverständnissen gekommen.
Heute will er mich mitnehmen zum Essen zu seinen Eltern. Ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll. Ich bin nervös. Extrem nervös. Ich bin noch nie zu den Eltern meiner Freunde eingeladen worden. Zumal ich sie ja im gewissen Maße schon kenne nach dem gestrigen Tag. Wobei ich mich immer noch schäme, wenn ich an meinen Abgang gestern denke.
„Du brauchst keine Angst zu haben, Torben“, sagt Sven liebevoll, „meine Eltern werden dich lieben.“
„Nach dem Auftritt von gestern bezweifle ich das“, meine ich zaghaft. Doch die beruhigenden Worte und die zärtlichen Gesten meines Freundes helfen mir zumindest, mich mit dem Gedanken anzufreunden.
Mein Freund. Es ist ein schöner Gedanke, Sven als meinen Freund zu sehen. Obwohl wir schon seit Monaten miteinander ausgehen, tanzen, lachen, miteinander schlafen, haben wir uns bisher noch nie darüber unterhalten, wie wir uns unser Leben vorstellen. Ob wir ein Paar sind im herkömmlichen Sinne. Ich hatte immer den Eindruck, dass Sven die Freiheit zu sehr liebt, um sich fest zu binden. Mir habe ich das auch immer eingeredet, dabei stimmt das nicht. Ich würde sehr gern eine feste Beziehung haben, einen Menschen, dem ich vorbehaltlos vertrauen kann und der immer für mich da ist. Ich habe nicht viele Freunde, eigentlich nur zwei, die ich wirklich so bezeichnen würde. Aber es ist doch etwas anderes, einen Freund zu haben oder einen Partner.
„Meine Eltern haben gelacht, als ich ihnen erzählt habe, dass du Marco für mich gehalten hast, und allein die Tatsache, dass mein Bruder mir gleich von deinem Auftritt erzählt hat, zeigt doch, dass sie sich denken können, wie viel du mir bedeutest. Marco war allerdings auch der einzige, dem ich schon mal von dir erzählt habe.“
Drei Stunden später parke ich tatsächlich wieder vor dem gleichen Haus wie gestern. Ich bin so aufgeregt wie seit langem nicht mehr. Ein letztes Mal zupfe ich an meinem Hemd herum. Die Entscheidung, was ich anziehen sollte, ist mir sehr schwer gefallen und Svens grinsende Bemerkungen haben mir auch nicht viel weiter geholfen. Dabei gab es gar nicht so viel Auswahl. Ich besitze nur einen Anzug und drei Hemden. Jeans und Shirt fielen von Beginn an heraus. Schließlich ist Feiertag und ich bin zum ersten Mal bei den Eltern meines Freundes eingeladen. Aber die Entscheidung, welches Hemd, mit oder ohne Krawatte. Die Haare offen oder mit Gel oder Haarreif. So viele Gedanken habe ich mir noch nie gemacht. Mir war es aber auch noch nie so wichtig, einen guten Eindruck zu machen. Gerade weil ich gestern wutschnaubend abgefahren bin.
Sven gibt mir einen flüchtigen Kuss und drückt auf die Klingel. Er lächelt mich aufmunternd an und hält meine Hand fest mit seiner verschränkt. Das gibt mir ein wenig Halt, denn meine Knie sind ganz schön wackelig, als ich die Schritte auf der anderen Seite der Tür höre, kurz bevor diese sich öffnet und Svens Mutter mit einem Lächeln vor uns steht.
„Herr Schäfer, nicht wahr“, sagt sie lächelnd und reicht mir die Hand, „kommen Sie doch herein und fühlen Sie sich wie zuhause. Wir freuen uns, dass Sven uns endlich mal einen Freund vorstellt.“
Ich nicke etwas dämlich und schlucke den Kloß herunter, der in meinem Hals feststeckt. Stumm schüttele ich die angebotene Hand, während Sven sich an mir vorbeidrängt, seiner Mutter einen Kuss auf die Wange gibt und mich dann hinter sich herzieht.
„Du kannst ruhig Torben und du sagen, Mama“, sagt er und dreht sich dann zu mir, um sich die Bestätigung zu holen, „nicht wahr? Du hast doch nichts dagegen. Das ist sonst so eine megasteife Veranstaltung heute.“
„Na … natürlich“, stammele ich leise, „das ist in Ordnung.“
„Gut“, meint Svens Mutter mit einem breiten Lächeln, „dann also Torben. Ich bin Gaby. Willkommen bei uns!“
Im Wohnzimmer warten auch Walter und Carina auf uns. Es ist ein komisches Gefühl, hier so nett aufgenommen zu werden. Ich fühle mich sofort als Teil der Familie. Nachdem sein Vater mich begrüßt hat, stellt Sven mir stolz seine Schwester vor. Sie liegt festgeschnallt in ihrem Elektrorollstuhl, der eine Kombination aus Stuhl und Bett ist. Sie kann nicht reden und nicht laufen, aber selbst mir fällt auf, dass sie anfängt zu strahlen, als sie Svens Stimme hört und ihn neben sich entdeckt. Er spricht sanft und liebevoll mit ihr und sie schenkt ihm ein Lächeln als Antwort. Die Geräusche, die sie von sich gibt, sind für mich undefinierbar, aber Sven scheint etwas zu verstehen, denn er antwortet ihr darauf.
„Du kannst ihr ruhig die Hand schütteln“, erklärt er mir, „sie krampft immer etwas, aber sie mag es, wenn man sie berührt.“
Etwas zaghaft greife ich nach der gekrampften Hand und sage ein leises „Hallo, Carina.“
Die Hirnschädigung ist die Folge eines Geburtsfehlers. Große Teile ihres Gehirns waren zu lange nicht mehr durchblutet gewesen, weil die Geburt zu lange dauerte und die Ärzte falsch reagierten. Zwar war das Krankenhaus später zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt worden, aber das wog die Folgen der Schädigung natürlich nicht auf. Die ersten fünfzehn Jahre hatte Carina bei ihrer Familie gelebt, aber dann war die Belastung für die Familie zu groß geworden. Nachdem Sven und Marco ausgezogen waren, hatte die Last der Pflege nur auf der Schulter der Mutter gelegen und diese an den Rand ihrer Belastbarkeit gebracht. So hatte die Familie schweren Herzens beschlossen, Carina in ein Heim zu bringen. Dort besuchte sie jeder aus der Familie einmal in der Woche und zu den Feiertagen holten sie sie zu sich nach Hause.
„Sie mag dich“, meint Sven neben mir, „sonst hätte sie längst weggeschaut.“
Ich fühle mich ein wenig unsicher, weil ich keinerlei Erfahrung mit solchen Behinderungen habe. Aber ich bewundere Sven für den liebevollen Umgang mit seiner Schwester. Er streichelt ihr den Kopf und flüstert ihr liebevoll ins Ohr, während ich mich neben ihn setze und die beiden beobachte.
„Ich hoffe, du isst gerne Gans“, meint plötzlich Svens Mutter, bevor sie wieder in die Küche geht. „Das ist nämlich traditionell unser Essen am ersten Weihnachtsfeiertag. Svennie liebt das. Normalerweise spekuliert er immer darauf, die Reste mit nach Hause nehmen zu können, aber heute hat er dich ja dafür mitgebracht.“
Es dauert wirklich nicht lange bis die Spannung von mir abfällt und ich mich im Kreise von Svens Familie wohl fühle. Natürlich sind sie ein bisschen neugierig und fragen uns aus. Wie wir uns kennen gelernt haben und was ich so mache. Sven hat seine Eltern wohl auch ziemlich mit der Ankündigung überrascht, einen Freund zu haben, den er einladen will. Aber die Fragen zeugen von ehrlichem Interesse und sind keine blanke Neugier. Deshalb ist es auch kein Problem, sie ehrlich zu beantworten.
Das Essen schmeckt wunderbar und ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich so etwas Gutes gegessen habe. Wahrscheinlich zuhause bei meinen Eltern. Meine Mutter kann sehr gut kochen und ich ärgere mich noch heute sehr, dass ich mich dafür damals rein gar nicht interessiert habe, als ich noch zuhause gewohnt habe.
Während des Essens sitzt Sven neben seiner Schwester und füttert sie mit kleinen Bissen. Die Art und Weise, in der er mit ihr umgeht, zeugt von der Liebe und dem Respekt, den er ihr entgegenbringt. Obwohl sie nicht dem Ideal entspricht, dem Menschen immer gern entsprechen wollen. Mir zeigt es aber umso mehr, dass ich mich in den richtigen Menschen verliebt habe. Inzwischen ist das keine Verliebtheit mehr. Inzwischen ist es schon Liebe.
Nach dem Essen helfe ich mit, den Tisch abzuräumen, obwohl Gaby immer wieder betont, ich sei Gast und müsse das nicht. Aber ich fühle mich wie zuhause, vielleicht sogar besser als das. Und ich habe gelernt mitzuhelfen. Umso schneller sitzen wir wieder alle beisammen. Im Hintergrund läuft leise Weihnachtsmusik. Die Lichterkette am Baum leuchtet hell und taucht den Raum in ein gemütliches Licht. Es duftet nach einer Mischung aus Gänsebraten mit Rotkohl und Apfelsinen, Zimt und Mandeln, die auf dem Weihnachtsteller liegen.
Carina ist eingeschlafen. Ihr Vater hat sie zugedeckt und ein wenig in die Ecke des Zimmers geschoben. Es ist auffällig, wie gleichmäßig liebevoll alle mit ihr umgehen.
Wie selbstverständlich hat Sven sich neben mich gesetzt und den Arm um mich herum gelegt. Mir war das erst etwas unangenehm, aber seine Eltern scheinen sich wirklich für ihn, für uns, zu freuen. Es ist ein tolles Gefühl, hier Arm in Arm mit ihm zu sitzen.
Schließlich klingelt es und das Geplapper der Kinder kündigt den Rest der Familie an. Marco, Silke und die Kinder. Ich bin gespannt, ob sie einen Verdacht haben, dass ich den Weihnachtsmann gespielt habe. Bisher hatte ich noch nie das Problem, einen meiner Kunden später wieder zu treffen. Das ist also jetzt die Stunde der Wahrheit.
Das Aufeinandertreffen mit Marco ist mir ein wenig unangenehm. Schließlich habe ich ihn ziemlich angepflaumt. Obwohl ich eigentlich dachte, er sei Sven, aber das zählt ja nicht.
„Hallo, Torben“, begrüßt mich Marco, bevor ich zu einer Entschuldigung ansetzen kann, „ich hoffe, du greifst mich heute nicht wieder unnötig an. Aber mein Bruder hat schon dafür gebüßt, dass er mir nicht genug von dir erzählt hatte.“ Er umarmt mich freundschaftlich und ich kann gar nicht anders als ihn zu mögen.
Erstaunt betrachte ich die beiden Brüder, die auch beide nebeneinander kaum zu unterscheiden sind. Zumindest äußerlich, denn an der Stimme und der Gestik sieht man dann ziemlich schnell leichte Unterschiede.
„Ich bin Silke“, stellt sich Marcos Frau vor, während ich noch versuche, die Unterschiede zwischen den Brüdern zu finden, „glaube mir, es dauert eine Weile bis du die Jungs auseinander halten kannst“, lacht sie laut.
Die Kinder halten sich wie gestern etwas zurück. Kim ist die erste, die sich näher an mich herantraut. „Du bist Svens Freund. Hat Mama gesagt. Aber ein anderer Freund als Lukas, der mein Freund ist. Sven mag dich sehr gern, hat Mama gesagt. Küsst ihr euch auch?“
Die Frage des kleinen Mädchens führt zu einem prustenden Lachanfall bei Sven und einem etwas verlegenen Herumdrucksen bei mir. Was soll ich darauf sagen?
„Na ja … ich … wir … manchmal …“
Bevor ich weiter stammeln kann, nimmt mich Sven einfach in den Arm und küsst mich. Vor den Kindern, ihren Eltern, Großeltern. Kein flüchtiger Kuss auf die Wange. Kein Hauch auf die Lippen. Sven küsst mich fest und bestimmend. Besitzergreifend. Leidenschaftlich und doch voller Zärtlichkeit und Liebe. In seinen Armen werde ich zu Wachs. Meine Knie werden weich und ich gebe mich seinem Kuss hin. Für einen kleinen Moment vergessen wir alles um mich herum. Bis der energische Ton der kleinen Kim uns wieder in die Wirklichkeit zurückholt.
„Hört jetzt endlich auf zu küssen und kommt ins Wohnzimmer. Ich will Omas Torte essen.“
So, als wäre das alles das Normalste von der Welt, zerrt sie an Sven und meinen Hosenbeinen, um uns hinter sich her ins Nachbarzimmer zu ziehen, wohin die Erwachsenen sich taktvoll zurückgezogen haben. Ich merke deutlich, wie die Röte mir ins Gesicht steigt, aber auch Svens Eltern und Marco und Silke scheinen nichts daran zu finden, was wir gerade gemacht haben.
Als wir uns zwei Stunden später voneinander verabschieden, liegt einer der schönsten Weihnachtstage meines Lebens hinter mir. Ich habe nicht nur einen festen Freund, sondern auch eine Familie bekommen.

… ein Jahr später …

Der Klingelton erinnert mich an das letzte Jahr. Auch heute ist dies mein letzter Termin. Ich habe lange überlegt, ob ich ihn wirklich wahrnehmen soll. Ob ich an Heiligabend wieder in mein Weihnachtsmannkostüm klettern möchte, war für mich keine Frage, auch wenn es zu einem kleinen Streit mit meinem Freund geführt hat. Er will einfach nicht verstehen, dass dieser Job mehr ist als reines Geldverdienen. Es macht Spaß, das Glitzern in den Kinderaugen zu sehen. Die Kleinen zeigen ihre Freunde noch unverblümt und ehrlich.
Die Agentur wollte mich noch zu zwei weiteren Familien schicken, aber da habe ich abgelehnt, denn zum ersten Mal seit dem Rausschmiss von meinem Vater habe ich eine Einladung zu einer richtigen Familienfeier.
„Hallo Tor…hallo Herr Weihnachtsmann!“ Gaby begrüßt mich mit einem freundlichen Lächeln. Gerade rechtzeitig hat sie abgebrochen, denn die Kinder sind ihr neugierig in den Flur gefolgt.
Ich freue mich jedes Mal, wenn ich zu einer bekannten Familie komme und sehen kann, wie sich die Kinder im Laufe eines Jahres verändert haben. An die meisten kann ich mich tatsächlich noch erinnern.
Vier Jahre bin ich nun schon in diesem Kostüm unterwegs, aber ich war selbst beim allerersten Besuch nicht so aufgeregt wie jetzt gerade. Kommt es mir nur so vor, oder mustert Kim mich argwöhnisch? Das Mädchen ist inzwischen schließlich schon sieben Jahre alt und kommt langsam in ein Alter, in dem der Glaube an den Weihnachtsmann verschwindet.
Ich folge Svens Mutter ins Wohnzimmer, wo die Familie sitzt. Mein Blick wandert durch den Raum, bis er an meinem Freund hängenbleibt. Er sitzt neben seinem Bruder auf der Couch und hält die Hand seiner Schwester, deren Rollstuhl neben ihm steht. Er spricht leise auf sie ein. Wenn die Brüder direkt nebeneinander sitzen, ist es eigentlich gar nicht so schwer sie zu unterscheiden. Allein das Strahlen aus Svens Augen zeigt mir deutlich, wer mein Mann ist, aber seine Nase ist auch ein wenig krummer, seit er als Kind einen Unfall hatte. Ein Schönheitsfehler, der ihn nur interessanter macht.
„Können wir nicht noch ein bisschen warten?“, fragt Kim. „Torben ist doch noch nicht da und der soll auch ein Geschenk vom Weihnachtsmann bekommen.“
Ich schlucke und merke, wie die Röte in mein Gesicht schießt, während Sven hinter vorgehaltener Hand losprustet.
„Torben muss noch arbeiten und kommt erst später“, erklärt Marco seiner Tochter. „Aber ich bin sicher, dass der Weihnachtsmann ein Geschenk für ihn hat und es hierlässt, wenn er gehen muss.“
„Ich will aber, dass …“
Marco legt einen Finger auf den Mund seiner schmollenden Tochter und redet leise auf sie ein. Sven kichert leise und auch der Rest der Familie hat Mühe Haltung zu bewahren. Nur ich muss mich beherrschen.
Mein Kopf taucht in den riesigen Sack und wühlt in den Geschenken. Mit ein paar tiefen Atemzügen versuche ich mich zu beruhigen. Ich bin schließlich Weihnachtsmannprofi und werde diese Aufgabe auch bewältigen. Danach beginnt die Freizeit.
Nach und nach verteile ich die kleinen und großen Päckchen, mal mit lobenden, aber auch mal mit mahnenden Worten. Während der ganzen Prozedur spüre ich Kims Blick auf mir. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie ahnt, dass hier etwas faul ist, auch wenn sie sich nach außen nichts anmerken lässt und auch brav ihr Gedicht aufsagt.
Ganz unten in dem Sack liegt tatsächlich ein Geschenk mit meinem Namen. Ich stutze und zögere einen Moment, bevor ich das Päckchen hervorhole.
„Ich habe hier noch ein Geschenk für Torben“, sage ich, während mein Blick über die Gesichter der Familie schweift. Meinen Freund überspringe ich bewusst, denn es fällt mir unendlich schwer, die ganze Zeit so zu tun, als würden wir uns nicht kennen.
„Torben ist noch nicht da“, erklärt Kim. „Er muss noch arbeiten. Wenn du es mir gibst, werde ich ihm das Geschenk geben, wenn er kommt.“ Sie reißt mir das Päckchen förmlich aus der Hand. „Da ist ein Herzchen neben Torbens Namen“, quietscht Kim entzückt. „Guck mal, Sven.  Da mag noch jemand den Torben so wie du.“ Plötzlich verdunkelt sich ihr Blick und sie sieht mich interessiert an. „Bist du schwul, Weihnachtsmann? Liebst du den Torben auch? Das wäre ziemlich blöd, denn Torben liebt meinen Onkel Sven und der liebt ihn.“
Bevor ich eine Antwort stammeln kann, rettet Gaby die Situation. Sie schiebt mich mit ein paar Entschuldigungen in den Flur und verabschiedet mich. „Bis gleich.“
Auf dem Weg zu meinem Auto lässt mich das Geschenk mit meinem Namen nicht in Ruhe. Ich habe keinen Zweifel, von wem es ist. Das Herz allein sagt schon genug aus. Aber Sven und ich haben doch heute Morgen schon Bescherung gemacht. Glücklicherweise, denn ich hätte die glitzernde Unterhose und die Vorratspackung an Kondomen und Gleitgel wahrlich nicht vor den Augen der gesamten Familie auspacken wollen. Dagegen war das Konzertticket, das ich ihm geschenkt habe, wirklich ziemlich bieder.
Svens Wohnung ist nur drei Straßen entfernt, so dass ich beschlossen habe, mich dort umzuziehen. Schließlich leben wir sowieso meist dort. Das ist bequemer als im Auto und dauert auch nicht viel länger. Zwanzig Minuten später klingle ich erneut an der gleichen Haustür.
„Torben … endlich!“
Kim reißt die Tür auf und ehe ich mich versehe, hängen auch Leon und Yannick an meinem Hosenbein. Lachend hebe ich den Kleinsten hoch und streiche seinem Bruder über den Kopf, während Kim bereits an mir zerrt.
„Du hast auch ein Geschenk vom Weihnachtsmann“, erklärt sie. „Mit einem Herz drauf. Aber ich habe ihm gleich gesagt, dass du Onkel Sven liebst und er dich.“
Obwohl wir uns vor kurzer Zeit schon gesehen haben, spielen alle Erwachsenen mit und begrüßen mich förmlich. Mein Freund nimmt mich in den Arm und küsst mich stürmisch. Auch nach einem Jahr ist es für mich immer noch seltsam, wie offen und ungezwungen er mit unserer Liebe im Kreis seiner Familie umgeht. Für einen Augenblick gibt es nur uns und die Anspannung fällt vollends von mir ab.
„Hier ist das Geschenk, Torben. Du musst es auspacken“, verlangt Kim energisch. „Schade, dass du nicht da warst, als der Weihnachtsmann es gebracht hat.“
Mit zitternden Finger öffne ich die Schleife und löse die Klebestreifen.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, flüstert Sven in mein Ohr, bevor er genüsslich das Ohrläppchen in den Mund nimmt und daran saugt. „Es ist nicht peinlich.“
Vorsichtig wickle ich das Paket aus und finde den Pullover, den ich neulich so toll fand, als wir zusammen shoppen waren. Er war zu teuer und am Ende siegte die Vernunft über die Sehnsucht. Es gibt viele Dinge, die wichtiger sind als ein neuer Pullover, wenn man auf sein Geld aufpassen muss.
„Du bist verrückt!“ Strahlend falle ich meinem Freund um den Hals. Vielleicht sollte ich ein schlechtes Gewissen haben, aber ich weiß, dass er sich den Preis leisten kann und deshalb freue ich mich einfach nur. „Danke.“
„Zieh ihn an. Er sieht toll an dir aus.“ Sven küsst mich erneut und lässt sich dann schmunzelnd wieder auf die Couch fallen. Schnell schlüpfe ich in den Pullover und drehe mich einmal um die eigene Achse. „Viel lieber würde ich dich allerdings wieder ausziehen …“
Ich werde rot und freue mich, dass Gaby uns zum Essen an den Tisch ruft. Nach dem Dessert ziehen die Kinder mich in die Ecke, in der ihre Geschenke liegen. Ich muss alles ausgiebig begutachten und sie nehmen mir das Versprechen ab, mit ihnen zu spielen, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Die beiden Kleinen werden langsam müde und sollen ins Bett, damit die Erwachsenen noch ein Weilchen miteinander reden können. Kim besteht darauf, dass ich sie ins Bett bringe.
„Ich weiß, dass du unser Weihnachtsmann warst“, zischt sie mir ins Ohr. „Yanni und Leo sind zu klein und blöd, aber ich weiß das.“
„Woher?“, frage ich leise zurück, da ich genau weiß, dass Leugnen zwecklos ist.
„Deine Schuhe. Du hast die gleichen Schuhe an wie der Weihnachtsmann. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass du dem Weihnachtsmann dein Auto borgst. Ich habe genau gesehen, wie du eingestiegen bist.“
Daran hatte ich nicht gedacht. „Danke, dass du mich nicht verraten hast.“
„Ich bin doch schon groß und ich petze nicht.“ Das Mädchen springt mir in die Arme und gibt mir einen dicken Kuss auf die Wange. „Außerdem finde ich es lustig, dass die Erwachsenen immer so tun, als glaubten sie an dich.“ Ich muss schmunzeln. „Aber ich mag dich als Torben noch lieber. Seit er mit dir zusammen ist, ist Onkel Sven viel lustiger.“

Als die Kinder endlich alle im Bett sind, sitzen wir im Kreise der Familie noch eine Weile zusammen. Svens Arm liegt auf meiner Schulter und streichelt mich unablässig. Ich genieße es, auch wenn ich mich schon auf den Augenblick freue, an dem wir allein sind. Die Wehmut, die an den Feiertagen lange Zeit mein Denken bestimmt hat, ist weg. Svens Familie hat mich ohne Vorbehalte in ihren Kreis aufgenommen. Sie ist jetzt meine Familie.

oooooOOOOOOOooooo

Da die Weihnachtszeit auch eine Zeit der Geschenke ist, soll es heute neben der kleinen Geschichte noch die Möglichkeit für einen Gewinn für euch geben.

Hier habt ihr ein paar Namen, schafft ihr die richtigen Paare zusammen zu stellen?
Jeder, der mindestens zwei Paare richtig nennt, hüpft in den Lostopf und kann sich dann über einen signierten Print nach Wahl freuen.

Andreas   Tobi   Martin   Tom   Erik   Florian   Mirko   Christian   Gregor   Tim

Habt ihr ein Lieblingspaar davon?

Morgen geht es weiter bei France Carol .

9 Kommentare:

  1. Christian & Andreas (hab ich gerade erst vor ein paar Tagen erneut gelesen 😍 Und sind auch mein Lieblingspaar)

    Gregor & Martin
    Florian & Tim

    Bei den anderen muss ich raten:
    Tobi & Tom
    Erik & Mirko

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  2. Aus Licht am Horizont kenne ich Florian und Tim und natürlich auch Martin und Gregor aus Licht am Ende des Tunnels.

    Mir gefallen deine Geschichten und lese gerne Neues von dir auf ff.de.

    Wann geht es denn mit dem Katerfrühstück weiter?

    Schöne Vorweihnachtszeit

    SaSiVa

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  3. Hallo Mia,

    dankeschön für die schöne Weihnachtsgeschichte.
    So, dann komme ich mal zu den Paaren.

    Florian - Tim
    Martin - Gregor
    Andreas - Christian
    Tobi - Tom
    Erik - Mirko (an ihre Geschichte kann ich mich jetzt zwar nicht mehr erinnern, aber da ihre Namen übrig bleiben, müssen sie zusammen gehören)

    LG Piccolo

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  4. Also meine Paare lauten
    Eric und Mirko
    Gregor und Martin
    Florian und Tim
    Tom und Tobi
    Übrig blieben noch
    Andreas und Christian

    Vielen Dank für das dritte Türchen 😊
    LG Bea

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  5. Christian und Andreas (mein absolutes Lieblingspärchen)
    Florian und Tim
    Martin und Gregor
    Tim und Tobi
    Eric und Mirko

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  6. Eine wunderschöne Weihnachtsgeschichte, vielen Dank dafür :).

    Gregor und Martin
    Florian und Tim
    Dann erinnere ich mich noch an Tim und Tobi, das war dann aber auch schon. Vielleicht sollte ich mal wieder einige deiner Geschichten lesen, scheint zu lange her zu sein ;)

    Liebe Grüße und einen schönen Abend,

    Pummeluff

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  7. Die Ziehung der Lose hat einen Sieger/eine Siegerin ergeben: Jungbrunnen

    Bitte melde dich per PN auf Facebook oder unter mia.grieg@gmx.de, um mir deinen Wunschtitel und Namen und Adresse mitzuteilen.

    Herzlichen Glückwunsch!
    Mia

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  8. Hallo Mia,

    das ist eine sehr schöne Geschichte! Ich kenne sie zwar schon, aber habe sie noch einmal gelesen! ;)

    Alles Liebe
    Christina

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