Montag, 7. Dezember 2015

Adventskalender 8.Dezember 2015



Süßer Traum


Das schrille Läuten des Weckers reißt mich aus dem Tiefschlaf. Murrend drücke ich die Schlummertaste und gönnte mir noch ein paar Minuten. Unerbittlich wird das Unding in zehn Minuten wieder bimmeln und mich endgültig zum Aufstehen zwingen. Ich hasse meine Arbeitszeiten. Es gibt Schöneres, als mit den Hühnern aufzustehen, vor allem wenn man eigentlich ein Nachtmensch ist wie ich. Doch das wusste ich schon, als ich mich für diese Ausbildung entschieden habe. Mein Traumberuf war Bäcker und Konditor wahrlich nie, doch meinen Eltern zuliebe und weil ich selbst keinen besseren Plan hatte, habe ich nach dem Abitur mit der Lehre begonnen. Eigentlich wollte ich nur ein bisschen Zeit schinden, bis ich wusste, wie ich meiner Familie schonend beibringen kann, dass ich keine Lust habe, den Familienbetrieb weiterzuführen. Die sozialunverträglichen Arbeitszeiten allein reichen schon aus, um den Beruf nicht gerade zum Traumberuf werden zu lassen. Schließlich gibt es noch ein Leben neben der Arbeit. Blöd nur, wenn man immer dann ins Bett muss, wenn die Freunde den Abend gerade beginnen.

Von einem Tag auf den anderen hatte sich dann allerdings meine Aussicht auf eine andere Beschäftigung verändert. Als mein Vater einen Schlaganfall bekam, änderte sich auch mein Leben von Grund auf. Mir blieb gar keine andere Wahl, als die Tradition meiner Familie fortzuführen. Mein Urgroßvater hat die Bäckerei vor über einhundert Jahren eröffnet und der Betrieb wurde dann von Generation zu Generation weitervererbt. Nun sind meine Schwester und ich an der Reihe, wobei Klara gleich klargemacht hat, dass sie ihre Zukunft nicht um 3 Uhr morgens in einer Backstube sieht. Damit sie mithelfen kann, hat sie ihre Stundenzahl in der Versicherung, in der sie arbeitet, halbiert. Immerhin gibt es so wenigstens ein festes Einkommen, denn die Zahlen unseres Betriebes sind wirklich erschreckend. 

Auch wenn ich noch weit vom Wachzustand entfernt bin, kreisen meine Gedanken um die finanzielle Lage unseres Ladens. Es ist bestimmt nicht gesund, wenn sich jede bewusste Minute sich ums liebe Geld dreht, aber ich kann nichts dagegen machen. Murrend quäle ich mich aus dem Bett und gehe in die Küche. Mein erster Gang führt mich jeden Morgen hierher, denn ohne den ersten Becher mit heißem Kaffee, stark tiefschwarz, bin ich kein Mensch. Da ich meinen morgendlichen Zustand kenne, bereite ich die Kaffeemaschine immer schon am Abend vor. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich mich noch nie beim Rasieren geschnitten habe, wenn ich mal wieder im Halbschlaf vor dem Spiegel stehe. Die Hoffnung, mich jemals an diesen Tagesrhythmus zu gewöhnen, habe ich längst aufgegeben. Die Aussicht auf Jahrzehnte in diesem Trott ist allerdings mehr als furchterregend.

 Nach einer lauwarmen Dusche und ein paar eiskalten Spritzern Wasser sieht das Gesicht, das mir im Spiegel entgegenblickt, immerhin schon etwas besser aus. „‘n Morgen, Felix“, knurre ich halblaut mein Spiegelbild an. „Du siehst scheiße aus wie immer.“

Gähnend schleppe ich mich zum Anziehen zurück ins Schlafzimmer. Langsam beginnt der Kaffee zu wirken und die Routine tut ein Übriges. Bevor ich die knarrende Holztreppe von meiner Wohnung hinunter in die Backstube gehe, gieße ich mir noch einen zweiten Becher ein. Obwohl ich die Mansarde, in der ich während meiner Ausbildung gewohnt habe, mochte, ist mir die Entscheidung zum Umzug hierher nicht schwer gefallen. So kann ich jeden Morgen beinahe eine halbe Stunde länger schlafen und bin im Notfall auch schnell erreichbar, wenn ich später im Laden gebraucht werde.

 

Aus den Lautsprechern schallt laute Musik, als ich mit den Vorbereitungen für die ersten Backwaren beginne. Seit ich die Rezepte meines Vaters ein wenig geändert habe, schmecken die Brötchen wirklich gut und nach und nach steigt auch die Anzahl der neuen Kunden wieder an. Das ist auch dringend notwendig, um die Bäckerei vor der Insolvenz zu bewahren. Schon seit Jahren geht das Geschäft stetig zurück, weil die Kundschaft immer mehr zu dem Backshop im benachbarten Supermarkt abwandert. Obwohl es dort nur aufgebackene Fertigmischungen gibt, die mit handgemachten Bäckerschrippen nicht im Mindesten mithalten können. Aber es ist halt billig und bequem. Dass die Konkurrenz groß ist, war mir bewusst, aber wie prekär die Lage inzwischen ist, habe ich erst nach dem Studium der Bücher erkannt. Mein Vater hat die Augen vor dem Fiasko komplett verschlossen und weitergemacht wie bisher. „Qualität setzt sich irgendwann durch.“ Noch immer höre ich die schleppende Stimme bei der Antwort auf meine Frage, was er gegen den stetigen Umsatzrückgang unternommen hat. Die Tatsache, dass unser Laden die am Abend übriggebliebenen Backwaren für Bedürftige spendete, war zwar edel, aber auch unsere Familie braucht ein Einkommen zum Überleben. Noch im Krankenhaus nahm mein Vater mir das Versprechen ab wenigstens zu versuchen, den Laden zu halten. Zu der Zeit hoffte er wohl noch, selbst irgendwann einmal wieder einsteigen zu können. Aber das wird nie mehr passieren. Er konnte froh sein, wenn er einmal wieder ein normales Leben führen konnte. Nach den ernüchternden ersten Wochen fällt mir die Hoffnung zwar zunehmend schwer, aber ich halte meine Versprechen und werde zumindest ein Jahr lang durchhalten.

Als die erste Lage Brötchen im Ofen und die nächste vorbereitet ist, gehe ich hinüber in den Laden. Ich wische die Auslagen ab und schalte den Kaffeeautomaten an. Die Ausgabe für die Maschine übersteigt eigentlich unser Budget, aber um mit der Zeit zu gehen, muss eine Bäckerei heute Kaffee mit einer richtigen Crema ausschenken. Bisher allerdings bin ich wohl selbst mein bester Kunde, doch schließlich muss es auch einen Vorteil haben, Chef zu sein. Während ich auf das Klingeln der Zeitschaltuhr warte, gönne ich mir noch einen Latte Macchiato mit zwei Löffeln Zucker. Kaffee in jeglicher Variation ist eines meiner wenigen Laster.

Diesen Moment mag ich jeden Morgen am liebsten. Nur der Klang meiner Lieblingsmusik durchbricht die Stille. Mit dem heißen Milchgetränk in der Hand betrachte ich die Pralinen im Fenster. Auf die Eigenkreationen bin ich ein bisschen stolz, auch wenn sich bisher noch nicht genug Kunden darauf einlassen. Vielleicht lässt der Umsatz sich ankurbeln, wenn wir ein paar Stücke zur Werbung verschenken. Das muss ich einfach noch einmal durchrechnen. Pro zehn Euro Umsatz zwei Pralinen umsonst und einen Rabatt von einer Praline beim Kauf von mindestens zehn Stück. Wenn diese Biester nicht so viel Zeit bei der Herstellung benötigten, wäre es einfacher. Aber mir macht die Herstellung von Pralinen auf jeden Fall mehr Spaß als das Backen von Kuchen. Mit einem Lächeln im Gesicht rücke ich das Werbeplakat auf dem Verkaufstresen zurecht. Klaras Bild ist wirklich schön. Meine Schwester hat ein künstlerisches Talent, das ich ihr nie zugetraut hätte. „Ein Advent ohne Kalender ist wie Weihnachten ohne Baum!“ Ein Adventskalender neben einer geschmückten Tanne. „Wir bieten den besonderen Kalender … jeden Tag einzeln oder im Abo.“

Komplette Kalender haben wir vor dem 1.Dezember zwar nur wenige verkauft, aber im Laufe der ersten Tage sind es doch einige Kunden, die regelmäßig vorbeikommen. Überhaupt laufen die Tagesangebote recht gut. Es macht zwar viel Arbeit, jeden Tag eine neue Kleinigkeit zu entwickeln, aber der Spaß überwiegt und es war ein weiterer Weg, Kunden zu gewinnen. Viele Menschen freuen sich über die Abwechslung und sind gespannt, woraus die tägliche Überraschung besteht. Die Kommentare sind hauptsächlich positiv und wenn sich die Angebote herumsprechen, können wir bald vielleicht noch mehr unterschiedliche Dinge anbieten. Mundpropaganda durch zufriedene Kunden ist durch kein Geld der Welt zu ersetzen. Ob unser besonderer Kunde heute wohl auch wieder erscheint? Verträumt denke ich an den jungen Mann, der seit ein paar Wochen regelmäßig in den Laden kommt. Zunächst hat er alle paar Tage nur zwei Brötchen gekauft, seit die Pralinen im Angebot sind, probiert er jedes neue Stück aus und nun kommt er jeden Morgen, um das Adventstürchen zu kaufen. Seit ich ihn durch Zufall einmal selbst bedient habe, bleibe ich meist so lange im Laden, bis er da war. Wenn mein Liebesleben schon nur im Kopf stattfindet, darf ich mir doch wenigstens ein reales Traumbild gönnen. Der Kerl entspricht meinem absoluten Traumtyp. Seine Locken, die meist widerspenstig ins Gesicht hängen und von ihm unbewusst alle paar Sekunden weggepustet werden, und die strahlendblauen Augen, die wie mich wie ein Meer in seinen Strudel ziehen …

„Wartest du schon wieder auf deinen Traumprinzen? Kannst es wohl nicht abwarten.“ Als ich die Stimme meiner Schwester höre, zucke ich zusammen. „Tust du, ich sehe es dir an.“ Klara lacht, bevor sie sich an mich schmiegt und auf den Mund küsst. „Ist aber auch ein Sahneschnittchen. Lade ihn doch mal auf ein Date ein. Es wird Zeit, dass du mal wieder rauskommst.“

Mein Lachen klingt humorlos. „Gute Idee. Ich mache mich zum Affen und vergraule einen Kunden, indem ich ihn zu einem Date einlade, obwohl ich nicht mal weiß, ob er schwul ist. Außerdem sind Dates am Nachmittag immer sehr romantisch, wie ein Kindergeburtstag.“

Klara zieht mich in eine feste Umarmung und zwingt mich, ihr ins Gesicht zu schauen. „Du solltest wirklich mal wieder an deinem Gaydar arbeiten. Der ist schwul, garantiert. Und interessiert an dir ist er auch, sonst würde er dich nicht immer anschmachten, wenn er dich sieht. Ihr seid wahrscheinlich beide gleich verklemmt. Du arbeitest viel zu viel und hast dir mal eine Auszeit verdient. Einen Morgen schaffe ich mit Mamas Hilfe bestimmt auch allein und ich bin sicher, dass sie sofort zusagt, wenn wir ihr erzählen, für welch guten Zweck es ist.“

Die Unterhaltung läuft in eine Richtung, die mir nicht gefällt. Meine Schwester hat schon ein paar Mal versucht, mich an irgendwelche Kerle zu verkuppeln, seit die einzige Beziehung meines Lebens vor zwei Jahren in die Brüche gegangen ist. Sie gibt sich noch immer eine Mitschuld an der Trennung, weil sie mich damals früher nach Hause geschickt hat, damit ich Dominik überraschen kann. Ich hätte wahrlich auf den Anblick meines Freundes verzichten können, der gerade stöhnend seinen Schwanz in einem Kerl versenkte. In dem Augenblick, als ich die Wohnungstür aufschloss und die eindeutigen Geräusche aus dem Wohnzimmer hörte, brach eine Welt für mich zusammen. Doch nun bin ich froh, den Scheißkerl, der mich nach Strich und Faden betrogen hat,  los zu sein. Wie sich herausgestellt hat, war der Typ nicht der einzige, der in den fast vier Jahren unserer Beziehung zur Verfügung stand, wenn Dominik jemanden toppen wollte. Mit mir zu reden wäre wohl zu einfach gewesen. Ich habe nie bemerkt, dass ihm etwas fehlt. Im Gegenteil, ich habe selbst darauf verzichtet, mich ihm öfter hinzugeben, weil ich dachte, er mag mich anders lieber. Im Nachhinein kann man nur sagen, dass wir ein generelles Kommunikationsproblem hatten. Seltsamerweise verflog der erste Schmerz schnell, was mir zeigt, dass ich mir wohl die ganze Zeit etwas vorgemacht habe, als ich in ihm den Mann meines Lebens gesehen habe. Vielleicht war er auch nur jemand, der bereit war, die unchristlichen Arbeitszeiten und damit verbundenen Einschränkungen im privaten Leben zu ertragen. In der ersten Zeit nach der Trennung wollte ich meine wiedergewonnene Freiheit genießen und Spaß haben. Wenn ich in einen Club zum Tanzen ging, fand ich immer einen willigen Kerl zum Ficken. Warum sollte ich mich also erneut an einen einzigen Typen binden,  der mich am Ende doch enttäuschte? Niemand weiß allerdings besser als ich selbst, dass ich mir etwas vormache. Im Grunde bin ich ein Romantiker, der sich nach der großen Liebe sehnt … dem einen Mann, mit dem an meiner Seite ich alt werden will. Die Ehe meiner Eltern ist noch immer ein Vorbild für mich, auch wenn ich mir einen Mann als Partner wünsche. Spätestens als mein Vater erkrankte, ist die Aussicht auf eine neue Liebe allerdings immer unwahrscheinlicher geworden. Sozial unverträgliche Arbeitszeiten, die schon das Aufrechterhalten von Freundschaften erschweren, sind ein Ausschlusskriterium bei der Partnersuche.

„Ich kann mir meine Kerle allein aussuchen“, murre ich laut. „Hör auf, dich einzumischen.“  

„Das merkt man. Ich möchte fast wetten, dass du seit Dominik keinen Kerl mehr nahe an dich heran gelassen hast …“

„Ich werde ganz sicher nicht mein Sexleben mit dir diskutieren.“

Für mich ist die Diskussion damit beendet, daran lasse ich keinen Zweifel. Doch so schnell lässt meine Schwester sich nicht stoppen.

„Sex ist nicht alles, Bruderherz. Du kannst dir vielleicht selbst etwas vormachen, mir aber nicht. Ich weiß schließlich, wie du bist, wenn du wirklich glücklich bist. Als du mit Dominik zusammen warst, hast du von innen gestrahlt. Jetzt wirkt dein Lächeln meist aufgesetzt. Ich dachte wirklich, ihr beide seid ein Traumteam und ich mochte Dominik. Aber wenn ich ihn jetzt noch mal in die Finger bekomme, sollte er sich warm anziehen. Seit der Trennung bist du nicht mehr derselbe und ich bin stinkwütend auf den Kerl, der dir das angetan hat.“

Das Klingeln der Türglocke beendet unser Gespräch und Klara widmete sich dem ersten frühen Kunden, der zufrieden mit den ofenfrischen Brötchen abzieht, während ich zurück in die Backstube gehe.



Morgen geht es weiter bei Sissi Kaipurgay

10 Kommentare:

  1. Hallo Mia,

    ein schönes erstes Kapitel deiner Geschichte.
    Ja, Bäcker haben alles andere als tolle Arbeitszeiten. Aber es ist auch ein sehr kreativer Beruf, in dem man sich durchaus austoben kann. Stimmt, die kleinen privaten Bäckereien haben es wirklich nicht leicht bei der Konkurrenz. Ich gehe allerdings auch lieber in so einen kleinen Bäcker, weil es einfach besser schmeckt. Selbst bei den großeren Bäckereiketten schmeckt die Ware nur bedingt und ist meistens ein Einheitspamps.
    Ich drücke Felix die Daumen bei seinen Schwarm und der Rettung der Bäckerei.

    LG Piccolo

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    1. Ich war ein paar Tage out-of-order, daher eine verspätete Antwort. Die Jagd nach den Schnäppchen ist leider weit verbreitet, manchmal sicher auch aus finanziellen Gründen. Aber weniger ist manchmal mehr, daher nehme ich auch lieber ein wohlschmeckendes Brötchen als zwei "Einheitspampe".

      LG
      Mia

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  2. Der Star deiner Geschichte ist sehr vielversprechend. Ich freu mich schon auf die Fortsetzung.
    Gruß
    Lesekatze74

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  3. Noch eine Geschichte, auf deren Fortsetzung ich sehnsüchtig warte! Sie ist sehr schön geschrieben und gefällt mir! ;)

    Alles Liebe
    Christina

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    1. Heute geht es schon weiter, ich hoffe, du bleibst dabei. Ich war leider ein paar Tage out-of-order, daher mein verspäteter Dank für deinen Kommentar.

      LG
      Mia

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  4. oh toll, ich finde den Bäckerberuf auch super. Da weis man wenn man was selber macht doch wo es herkommt. Im Discounter schmeckt es einfach nur Fad. Tolle Story

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  5. Sehr schöner Anfang, ich freue mich darauf den besonderen Kunden kennenzulernen ;).

    Liebe Grüße,
    Pummeluff

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    1. Dann hoffe ich mal, dass Arne deine Erwartungen auch erfüllt. Dank meiner verspäteten Antwort, kann ich das Geheimnis ja schon ein wenig lüften.
      Vielen Dank!
      LG
      MIa

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  6. oh eine schöne Geschichte ;) auch wenn ich seit sicher 3 jahren nicht mehr in einer Bäckerei war. Früher habe ich immer gerne beim guten Bäcker gekauft. ... heute geht das leider nicht mehr :( frische Brötchen gehen mit nach der Geschichte echt ab. ;)
    lg Zwackl

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    1. Ich finde es einfach schade, dass die "richtigen" Bäcker immer mehr verdrängt werden, aber mit den Preisen der Ketten können sie natürlich nicht mithalten. Ab und an sollte man sich aber mal etwas gönnen.
      Vielen Dank für deinen Kommentar.
      LG
      Mia

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